12.04.21
Pioniernutzungen

Eine Nachkriegsgenossenschaft erfindet sich neu

Die Geschichte der Wohnbaugenossenschaft Neues Heim ist eine Geschichte der Selbstermächtigung. Ihre Gründung geht zurück auf das heute fast vergessene Lager Schlotwiese im Stuttgarter Stadtteil Zuffenhausen, in dessen Holzbaracken seit Herbst 1945 Tausende aus der Region Batschka geflüchtete oder vertriebene Donauschwaben untergekommen waren. Von den Nazis für Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene errichtet, boten die Baracken wenig mehr als ein improvisiertes Dach über dem Kopf. Hinzu kam die Ablehnung der deutschen Mehrheitsgesellschaft: Wer in der Schlotwiese wohnte, galt als Außenseiter. Und doch entwickelte sich zwischen den Menschen eine Solidargemeinschaft, aus der heraus Betriebe, ein Kindergarten, eine Schule, eine Kirche und eine Gaststätte für das Notquartier entstanden.

Das Leben in den baufälligen Baracken war ein Provisorium. Und sollte es bleiben. Drei Jahre nach Kriegsende schlossen sich 79 Menschen zur Baugenossenschaft »Neues Heim« zusammen. Ihr Ziel: bezahlbaren Wohnraum schaffen, Ankommen, Anerkennung finden. Die Grundstücke zum späteren Quartier am Rotweg stellte das Land Baden-Württemberg in Erbbaurecht zur Verfügung. Und schon im Dezember 1949 bezogen die Genossinnen und Genossen den ersten Zeilenbau mit 18 Wohnungen. Heute leben im Stadtteil rund 10.000 Menschen und die BG Neues Heim ist längst ein etablierter Player auf dem Stuttgarter Wohnungsmarkt.

Genau wie viele Bestände, die in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurden, sind die Zeilenbauten am Rotweg gemeinsam mit ihren Bewohnerinnen und Bewohnern in die Jahre gekommen. Ausstattungen, Grundrisse, Architektur sind 75 Jahre nach Kriegsende nicht mehr zeitgemäß, Freiflächen liegen brach. Bis 2027 will die BG Neues Heim das Areal nun in Kooperation mit der Baugenossenschaft Zuffenhausen als IBA’27-Vorhaben neu entwickeln. Im April wird der städtebauliche Wettbewerb entschieden. Doch wie soll im Stadtteil wieder das einziehen, was die BG Neues Heim in ihren Gründungsjahren auszeichnete? Eigeninitiative, Aufbruchstimmung, nachbarschaftliche Solidarität?

Pioniernutzungen als Chance

Die BG Neues Heim sieht den Umbruch als Chance. Nicht nur dafür, den Gebäudebestand zu erneuern, sondern vor allem dafür, dem genossenschaftlichen Geist neues Leben einzuhauchen. Vom Umzug der Bewohner in modernere Wohnungen bis zum Abriss beziehungsweise Umbau vergeht meist einige Zeit. Statt den Leerstand hinzunehmen, entschied das Neue Heim, Wohnungen zur Zwischennutzung freizugeben. Auch für Menschen, die keine Mitglieder der Genossenschaft sind. Oder noch nicht. Schließlich ist Wohnraum in Stuttgart knapp. »Für die Zwischennutzung sprechen gleich mehrere Gründe«, so Martin Gebler, Leiter der Wohnungsverwaltung des Neuen Heims. »Zum Ersten gibt es in Stuttgart ein Zweckentfremdungsverbot, das Leerstand über sechs Monate sanktioniert. Zweitens leiden die verbliebenen Mieterinnen darunter, wenn im Haus ein Fenster nach dem anderen dunkel bleibt. Drittens gehört die Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum zur DNA unserer Genossenschaft. Und zu guter Letzt rechnet es sich auch.« Denn mit der Zwischenvermietung käme über die Jahre eine nicht ganz unbedeutende Summe zusammen. Die Kosten, die ein Leerstandsmanagement verursache, seien dabei noch gar nicht eingerechnet.

Viele in seiner Branche würden auf Zwischennutzungen verzichten, weil ihnen Aufwand und Risiko für solche Experimente zu groß seien. Das Neue Heim hat qualifizierte Mitarbeiterinnen und geht den Weg des »Smart Repair«, der Wohnungen mit geringem Kostenaufwand ertüchtigt. Die Baugenossenschaft kooperiert in Rahmenvereinbarungen mit Organisationen, die passende Belegungen umsetzten – Menschen, die Bezahlbarkeit und Eigeninitiative über Bequemlichkeit und Komfort stellen: »Wir haben das Studierendenwerk gefragt, ob sie Lust hätten, mit uns über eine Zwischenvermietung in Rot nachzudenken. Das hatten sie. Also haben wir einen Sammelvertrag ausgehandelt, der Anzahl, Zustand und Preis der Wohnungen, Belegung und auch die Betriebskosten festschreibt«, so Gebler.

Kreativität zieht ein

Die Wohngemeinschaften, vermittelt über das Studierendenwerk, waren der Anfang. Bald danach kam der Studiengang International Master of Interior-Architectural Design (IMIAD) der Stuttgarter Hochschule für Technik (HFT) auf die BG Neues Heim zu. Die Studierenden von Professor Wolfgang Grillitsch und Heike Rittler suchten Experimentierräume für ihr »Co-Living-Lab«, das über neue Möglichkeiten des Zusammenlebens in der Architektur der Nachkriegszeit forschen wollte. Vor allem aber hatten sie eine große Portion Kreativität im Gepäck. Die BG Neues Heim, die das neue Leben in den Altbauten schätzen gelernt hatte, überließ dem »Co-Living-Lab« fünf Wohnungen – diesmal ohne vorherige Ertüchtigung, dafür kostenlos und mit der Hoffnung auf Impulse für Viertel und Nachbarschaft.

Schnell zeigten sich Freiräume: Verbindungen zum anliegenden Immanuel-Grötzinger-Haus, dessen Bewohner schon seit Jahren mit Gemeinschaftsgarten und Café die Nachbarschaft aufwerten, wurden geknüpft. Davon profitierte das Urban-Gardening-Projekt der Studierenden. An den Hauswänden wurden Filme gezeigt, ein »Covid-Parcours« versuchte sich trotz Pandemie an der besseren Nutzung der Außenanlagen. Und auch im Inneren bekamen die Wohnungen ein neues Design: In einer Masterarbeit beschäftigte sich ein Studierender beispielsweise mit einer flexiblen, schnell aufbaubaren Küche für die nachbarschaftliche Nutzung.

Im nächsten Schritt suchten die Studierenden nach Strategien für eine Transformation der Architektur. »Die Aufgabe bestand darin, neue gemeinschaftliche Wohn- und Lebensformen in den Zeilenbauten zu ermöglichen«, sagen Prof. Wolfgang Grillitsch, Studiengangsleiter des IMIAD und Heike Rittler, die das Projekt an der HFT betreut. »Ziel unserer Aufgabenstellung im Reallabor ist es, Lösungsansätze zu entwickeln, um den Generationenmix und gemeinsam genutzte Infrastruktur mit der Aufwertung der Außenräume der Bestandsgebäude zu verbinden«.

Experimente zum Wohnen der Zukunft

So sind seit dem Sommer 2019 eine Reihe von Akteuren mit neuen Ideen auf einem Areal zusammengekommen, das bis dahin im Dornröschenschlaf seinem Abriss entgegendämmerte. Eine »Ursuppe«, nennt Heike Rittler das. Und die scheint immerhin so gut zu schmecken, dass das Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg das Projekt im Programm »Innovativ Wohnen – Beispielgebende Projekte« fördert: Bis Sommer 2021 soll eine Laborbühne auf dem Gelände errichtet werden, die die Zukunft des Wohnens und Zusammenlebens so spielerisch wie ernsthaft verhandelt. Die Ergebnisse sollen in den Bau von Modellwohnungen im Maßstab 1:1 einfließen, in denen probegewohnt und praxisorientiert weitergeforscht werden kann. Und diese Ergebnisse wiederum werden die Arbeit der Architektinnen und Planer beim Neubau des Areals bereichern.

Das Neue Heim hat inzwischen weitere Zwischennutzung in Rot möglich gemacht: Die Else-Heydlauf-Stiftung des Wohlfahrtswerks Baden-Württemberg ist bereits jetzt ein aktiver Partner im Netzwerk der Genossenschaften. Sie soll ab 2025 mit vielfältigen ambulanten Unterstützungsangeboten die Versorgung des Quartiers sicherstellen. Betreuungsleistungen, die rund um die Uhr abgerufen werden können, sollen Menschen den Verbleib im Quartier auch in hohem Alter möglich machen. Dem dafür benötigten Personal – Familien, die häufig aus dem Ausland nach Stuttgart kommen – vermietet die BG Neues Heim preiswerte Wohnungen, damit im teuren Stuttgart Fuß gefasst werden kann. Martin Gebler sieht in den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Pflegeeinrichtungen, genauso wie in den nach Deutschland geflüchteten Familien, die über eine Kooperation mit der Landeshauptstadt Stuttgart ins Viertel kamen, potenzielle Neumitglieder für die Baugenossenschaft.

Schritt für Schritt nähert sich die BG Neues Heim so ihrem Ziel, die Bewohnerinnen wieder zu einem aktiven Teil der genossenschaftlichen Entwicklung werden zu lassen. Beteiligung, Zwischennutzungen und Experimente sind dabei willkommene Instrumente. »Die BG Neues Heim ist wirtschaftlich gesund, trotz geringer Zahl an Mitarbeiterinnen vielfältig aufgestellt und zeigt, dass qualitätsvolles und bezahlbares Bauen kein Widerspruch sein muss«, sagt Martin Gebler. »Mit den Studierenden, Neubürgerinnen, Geflüchteten und Altmietern gibt es inzwischen eine Mischung, aus der sich wieder ein lebendiges, gemischtes und resilientes Quartier entwickeln kann.«

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