21.06.22
Weissenhofsiedlung

Bauen für den modernen Großstadtmenschen

Gastbeitrag von Prof. Dr. Klaus Jan Philipp.

Im Jahr 1927 schob sich Stuttgart an die Spitze internationaler moderner Architektur und Stadtplanung. Die Weissenhofsiedlung versammelte die Avantgarde Europas in Stuttgart und lockte von Juli bis Oktober etwa 500.000 Besucher aus dem In- und Ausland in die württembergische Hauptstadt. 13 Jahre lag es zurück, dass der Deutsche Werkbund eine erste Bauausstellung initiiert hatte. Damals, 1914 in Köln, präsentierte man die Vielfalt der Reformarchitektur, die sich ausgehend von Architekten wie Peter Behrens, Theodor Fischer und dem Bauhausgründer Walter Gropius zu Beginn des Jahrhunderts etabliert hatte. Diesmal standen nicht die mannigfaltigen Ausprägungen zeitgenössischer Architektur im Fokus, sondern eine radikale Moderne. Nichts weniger als das Bauen für den modernen Großstadtmenschen hatte der vom Deutschen Werkbund mit der künstlerischen Leitung der Ausstellung beauftragte Architekt Ludwig Mies van der Rohe im Sinn. Dazu lud er 17 internationale Kollegen nach Stuttgart ein, die sich kaum zehn Jahre zuvor noch als Todfeinde in den Schützengräben von Verdun oder Sedan hätten begegnen können.

Die eingeladenen Architekten aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Österreich einte das Ziel einer modernen Architektur, die dem berufstätigen, mobilen und gesundheitsbewussten modernen Menschen ein adäquates Wohnen aufzeigen sollte. Wohnungsmangel und die daraus resultierenden sozialen Probleme stellten die Planer und Architekten ganz Europas vor dieselben Fragen: Wie lassen sich Wohnungen kostengünstig in Serienproduktion herstellen? Wie können mit industriell gefertigten Materialien, der Typisierung von Bauteilen und der Modularisierung von Konstruktionen Bauzeiten verkürzt und Kosten gesenkt werden? Mit einem Wort: Wie lässt sich die drängende Wohnungsfrage lösen?

Die Bauten auf dem Weißenhof suchten Lösungen auf ganz verschiedenen Wegen. Die Architekten experimentierten mit Grundrissen, Materialien, Konstruktionen und Haustechnik. Sie bauten Einfamilien-, Doppel- und Reihenhäuser. Anders als bei früheren Bauausstellungen sollten die 33 Musterhäuser nach Ende der Ausstellung erhalten und bewohnt werden. Zwei temporäre Ausstellungen am Weissenhof und in der Stadt sowie ein Experimentiergelände, auf dem neue Baumaschinen, Baumaterialien und Fertighäuser präsentiert wurden, ergänzten die Bauausstellung. Die Hallenausstellungen hatten »Die Wohnung« zum Thema. Hier wurden Einrichtungen gezeigt, die ebenso modern, ebenso nüchtern und formal ebenso radikal waren wie die Häuser selbst.


Behaglichere, bessere und brauchbarere Wohnungen


Noch nie waren auf so engem Raum so viele Bauten als reine Kuben ohne irgendwelche Dekorationen meist als verhalten farbige Putzbauten entstanden. Alle hatten Flachdächer, die teils als Dachgärten genutzt wurden. So etwas hatte man weder in Stuttgart noch sonst wo gesehen und polemisch verglich man die Siedlung mit einem »Vorort Jerusalems«, weil man die Anmutung der Kuben, die sich den Berg von der Bruckmannstraße an empor wie eine abstrakte Skulptur hocharbeiteten, nur von mediterranen Städten her kannte. Die zentrale Frage, wie das Wohnen der Zukunft aussehen könnte, wurde nicht nur gestalterisch angegangen. Die Siedlung wurde enorm schnell, innerhalb von nur viereinhalb Monaten erbaut. Möglich war dies durch Vorfabrikation und Montagebau mit neu entwickelten Materialien wie Stahl und Beton, Betonzellendecken und Holzzementplatten. Baustoffe mit Luftkammern bezeugen das auch damals schon wichtige Thema des Wärmeschutzes und des ressourcenschonenden Bauens.

Alle Häuser waren mit Bädern und Zentralheizung ausgestattet, die auf optimierten Grundrissen eingerichteten Küchen erhielten Gasanschluss. Alles war darauf ausgelegt, im Haushalt Arbeit zu ersparen und die Wohnung behaglicher, besser und brauchbarer zu gestalten.

Keine Garagen, nur eine »Kraft-Droschken-Haltestelle«

Bild: Mercedes-Benz Group

Das wohl bekannteste Foto der Weissenhofsiedlung ist eine Werbung der Firma Daimler-Benz. Im Vordergrund das damals neueste Sportwagenmodell des Stuttgarter Autobauers mit einer davor posierenden avantgardistisch gekleideten jungen Frau. Das Doppelhaus von Le Corbusier bildet den Hintergrund des Werbefotos. Irritierend ist, dass das Auto und das Model heute altmodisch erscheinen, das Haus jedoch an Modernität nicht verloren hat. Ebenso irritierend müsste sein, dass das damals propagierte Mobilitätskonzept des Individualverkehrs in schnittigen Sportwagen noch immer fasziniert. Damals, 1927, war das Auto noch ein Luxus für wenige. Kein Haus auf dem Weißenhof hat eine Garage! Die Straßenbahnlinie 10 schlängelte sich vom Bahnhof kommend die Birkenwaldstraße hoch. Pkw-Parkplätze waren auf dem Ausstellungsgelände weder vorgesehen noch wurden sie gebraucht, lediglich eine »Kraft-Droschken-Haltestelle« wurde eingerichtet. Der große Erfolg der Ausstellung zeigte sich nicht nur in den hohen Besucherzahlen, sondern auch in Nachfolgeprojekten, die der Werkbund in den folgenden Jahren in Brünn, Breslau, Zürich, Prag und Wien ausrichtete, sowie in nicht wenigen privaten Bauvorhaben der Architekten der Weissenhofsiedlung.

Ideen für die Nachkriegsarchitektur

Mit der Machtergreifung der Nazis wurde es still um die Siedlung. Als »Baubolschewismus« verunglimpft, hatten die kubischen Häuser eigentlich keine Existenzberechtigung mehr. Der Abbruch war geplant. Im Krieg wurden einige Häuser schwer beschädigt und später durch Neubauten ersetzt. Nach 1945 blieb die Zukunft der Siedlung lange Zeit ungewiss. Die Ziele der Bauausstellung, die Wohnungsfrage und das schnelle und kostengünstige Bauen, waren dringender als je zuvor und viele der 1927 entwickelten Ideen fanden Eingang in das moderne Wohnen der Nachkriegszeit. Insbesondere die minimierten und optimierten Grundrisse wurden im Kleinwohnungsbau aufgegriffen. Auch die Experimentierfreude an einfachen Baumaterialien und Vorfabrikation erlebte angesichts der Notwendigkeit, schnell bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, eine Renaissance.


Stilistisch jedoch erschienen die Häuser auch noch nach dem Krieg als nicht opportun. Der Abriss einzelner Häuser stand kurz bevor. Engagierten Stuttgarter Bürgern und dem damaligen Bundespräsidenten und ehemaligen Geschäftsführer des Deutschen Werkbundes, Theodor Heuss, ist es zu verdanken, dass die Siedlung 1958 unter Denkmalschutz gestellt wurde. Das seither hauptsächlich durch bürgerschaftliches Engagement für die Erhaltung der Siedlung Geleistete wurde 2016 durch die Aufnahme der beiden Häuser Le Corbusiers ins Weltkulturerbe gekrönt. So wie die Weissenhofsiedlung im Jahr 1927 für einen radikalen Neubeginn für das Verständnis vom Wohnen des modernen Menschen stand, so ist sie heute sowohl stilistisch als auch wegen ihrer langjährigen Gebrauchsfähigkeit für eine von sozialer Diversität geprägten Bewohnerschaft noch immer Leitbild modernen Bauens.

Über den Autor

Prof. Dr. Klaus Jan Philipp leitet das Institut für Architekturgeschichte der Universität Stuttgart.

Der Text erschien erstmals 2016 im Standortmagazin »179« der Region Stuttgart. Er ist als Teil des Plattformprozesses für die IBA-Sonderausgabe entstanden.

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