Themen und Räume

Neuerfindung einer Stadtregion: Themen und Räume

Im Oktober 2018 startete die IBA’27 einen sehr offenen Projektaufruf: Mit einer klaren Haltung zur Zukunft und einem daraus abgeleiteten Katalog grundlegender Qualitäten, in die sich die Vor haben einordnen. Seitdem bewerben sich Kommunen, Initiativen, Unternehmen und private Träger mit kleinen und großen Vorhaben um Aufnahme in die IBA’27.

Obwohl es sich oftmals um viel schichtige Herausforderungen handelt, ähneln sich viele Themen der einge reichten Ideen. In unterschiedlicher räumlicher Ausprägung finden sie sich an verschiedenen Orten der Region Stuttgart wieder. Im Laufe der Zeit hat die IBA’27 draus ihre »Themen und Räume« entwickelt.

Die Themen geben der IBA’27 ein Gesicht und eine Geschichte. Und sie ermöglichen es, spezifische Strate gien und Antworten zu entwickeln. Wo sind die Erkenntnisse der IBA’27 regionstypisch und nicht übertragbar? Wo sind sie allgemein, brauchen aber Anpassungen an die lokalen Gegebenhei ten? Und wo liegt ein Kern, der so univer sell ist, dass er als Baustein neuer urbaner Praktiken, vergleichbar dem Anspruch der Moderne, zur Erkenntnis wird?

IBA’27: Illustration (IBA’27 / L2M3 / Max Guther)
Bild: IBA’27 / L2M3 / Max Guther

Die produktive Stadt

Digitale Transformation, roboterisierte Fabrikation und neue Mobilitätskonzepte verändern Produkte und Produktionsweisen in der Region Stuttgart. Dies ermöglicht neue vertikal verdichtete Fabrikkonzepte und ihre Nähe zu lärmempfindlichen Nutzungen, wie zum Beispiel dem Wohnen oder der Bildung. Für viele Räume in der Region eröffnet sich damit die Chance, sich neu zu erfinden. Die Produktion kehrt in die Stadt zurück und Industrieareale werden zu Stadtbausteinen. Kleinteilige urbane Landwirtschaft versorgt die Stadt mit hochwertigen Lebensmitteln, moderiert das Klima und erhöht die Biodiversität.

Mit dieser neuen produktiven Mischung können heute gesichtslose Gewerbe­ und reine Wohngebiete zu gemischten, lebendigen und kreativen Stadtquartieren werden. Die Rückkehr der Produktion geht aber weit über die Nutzungsmischung in der europäischen Stadt hinaus. Sie findet nicht nur kleinteilig in Erdgeschossen und Hinterhöfen statt, sondern nimmt die Fabrik als gleichberechtigten Stadtbaustein.

Dieser Paradigmenwechsel hat weitreichende Folgen für die Stadtstruktur. In vielen Punkten sind Planungsrecht und Investorenlogik noch nicht auf diese neuen Formen eingestellt. Eine IBA ist das richtige Format, um eine Wende einzuleiten. Mehrere Projekte in der Region Stuttgart wollen dies zusammen mit der IBA’27 versuchen.

Die Zukunft der Zentren

Durch Einkaufszentren vor der Stadt, Onlinehandel und veränderte Einkaufsgewohnheiten sind die Innenstädte unter Druck geraten. Bankfilialen verschwinden, innerstädtische Büroflächen stehen seit der CoronaEpidemie leer, die Gastronomie kämpft mit strukturellen Problemen. Schließungen setzen einen Abwertungsprozess in Gang und überlassen die einst stolzen Fußgängerzonen den Ramschläden und dem Leerstand.

In den Städten der Region Stuttgart buhlen oft gleich mehrere Stellen um Zentralität: Der Bahnhof abseits der Alt stadt als Ort mit großer Frequenz, eine in den 1960er und 1970erJahren gewachsene großmaßstäbliche und autogerechte Zwischenzone mit Einkaufs zentren, Dienstleistungen und Kultur einrichtungen und eine kompakte histo rische Innenstadt.

Einige Kommunen in der Region Stuttgart suchen zusammen mit der IBA’27 nach neuen Strategien, um dieses Geflecht neu zu strukturieren und Orte der Begegnung, Identitätsstiftung und des gesellschaftlichen Zusammenhalts neu zu definieren. Orte des Austauschs und des Lernens, Räume für Kultur und gemeinschaftliche Nutzungen, für neue Arbeitsformen und Experimente können entstehen. Welche Nutzungskonzepte und Betreibermodelle braucht es dafür? Entwickeln sich durch den gesellschaftlichen und technologischen Wandel neue Funktionen und Bedürfnisse? Ist der Begriff des traditionellen Stadtzentrums überhaupt noch gültig oder löst er sich in vielfältigeren Strukturen auf?

Orte der Bewegung und Begegnung

Die Zukunft der Mobilität beschäftigt die Region Stuttgart als Stand ort der Automobilproduktion, als vielfältig verflochtener Metropol raum mit Stau und Umweltproblemen und als konfliktreiche Großbau stelle von Stuttgart 21. Als Bauausstellung fokussiert sich die IBA’27 auf die räumlichen Auswirkungen der Mobilität.

So sind beispielsweise die S-Bahnstationen in der Region Stuttgart häufig reine Halte , Ein- und Ausstiegspunkte, umgeben von Busbahnhöfen und Park-and-Ride-Anlagen mit minimaler Infrastruktur. Oftmals haben diese Bahnhöfe ein großes Verdichtungspotenzial. Mit ergänzenden Funktionen und Bauwerken können sie in Zukunft zu Orten der Verkehrsminderung werden. Coworking-Spaces, temporäres Wohnen, Kultur, Sport, Freizeit und Kinderbetreuungseinrichtungen ermöglichen es, dass viele Fahrten gar nicht im Netz, sondern nur bis zum Bahnhof stattfinden. Oft in enger Nachbarschaft zu hohen Arbeitsplatzkonzentrationen – beispielsweise in Gewerbegebieten – können die Bahnhöfe mit ihrer Infrastruktur die Alltagsqualität erhöhen, indem sie mit Gastronomie und Dienstleistungsangeboten, gut gestalteten Freiräumen und weiterer Infrastruktur das Arbeitsumfeld aufwerten. Auch innerhalb der neuen Quartiere entstehen mit der IBA’27 neue Orte der Bewegung und Begegnung: multi funktionale »Mobilitäts-Hubs« am Rand, die mehr können als nur parkende Autos aufzunehmen – und die in einer Zukunft mit weniger privatem Autobesitz um oder rückgebaut werden können.

IBA’27: Illustration (IBA’27 / L2M3 / Max Guther)
Bild: IBA’27 / L2M3 / Max Guther

IBA’27: Illustration (IBA’27 / L2M3 / Max Guther)
Bild: IBA’27 / L2M3 / Max Guther

Der Neckar als Lebensraum

Den fehlenden Bezug zum Wasser bezeichnen viele in Stuttgart als eines der größten Defizite ihrer Stadt. Der Neckar fließt an Stuttgart vorbei. Aber auch in der Region wird der Fluss seiner historischen und kulturellen Bedeutung kaum gerecht.

Die Qualität des Wassers und die Nutzung als Wasserstraße verhindern das Baden, der Fluss ist ein technischer Kanal, an dem sich die Industrie entwickelte. Die Rückgewinnung des Neckars und seiner Nebenflüsse als Lebensraum und identitätsstiftendes Band der Region Stuttgart ist eine Generationenaufgabe. Sie bedarf des gemeinsamen Gestaltungswillens und der Kraftanstrengung vieler regionaler Akteure. Die IBA’27 will mit Pilotprojekten und Experimenten die Transformierbarkeit des Flusses beweisen und seinen ökologischen Umbau weiter vorantreiben.

Städte in aller Welt entwickeln ihre Flussufer und Hafenanlagen seit Jahren zu begehrten Freizeit und Wohnstandorten, weil die industrielle Nutzung verschwunden ist. Dies ist beim Neckar nur teilweise der Fall: Der Hafen ist ein wichtiger Umschlagplatz und Logistik knoten, an den Flussufern wird nach wie vor produziert, im engen Tal erschweren wichtige Verkehrsachsen direkt an den Flussufern den Zugang. Die Industrielandschaft ist nicht malerische Kulisse, sondern produktive Realität. Hier verdichten sich die Untersuchungen zur produktiven Stadt. Der Fluss kann nur erschlossen werden, wenn dies industrieverträglich gelingt. Es braucht neue Typologien der Nutzungsmischung, die Lärm und Immissionskonflikte lösen.

[Zum Themenraum Neckar im IBA’27-Forum]

Das Erbe der Moderne

Der hundertste Geburtstag der Stuttgarter Weissenhofsiedlung ist der Anlass und Ausgangspunkt der zweiten Internationalen Bauausstellung in der Region Stuttgart. Die hier gesetzten Maßstäbe entwickelten sich über die Charta von Athen zum universellen Anspruch der Moderne.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ent faltete die Moderne ihre ganze Wucht: beim Wiederaufbau der zerstörten Städte, in Trabantenstädten und dem Umbau der Innenstädte zu autogerech ten Räumen. Die großen Gebäude kom plexe der 1960er und 1970erJahre waren Höhe und gleichzeitig Endpunkt dieser Entwicklung.

Seither ringen wir mit dem Erbe dieses kurzen, modernen zwanzigsten Jahrhunderts. Mehrere Projekte der I BA’27 suchen Strategien für den Umgang mit dem Bestehenden und seiner Weiterentwicklung. Wie können sich Siedlungen in Quartiere verwandeln? Wie lassen sich an der Kleinfamilie orientierte Wohnkonzepte für eine komplexere Gesellschaft weiterentwickeln? Wie lassen sich die gebauten Großstrukturen an neue Bedürfnisse anpassen und technisch so ertüchtigen, dass sie in einer postfossilen Welt funktionieren? Und nicht zuletzt: Wie kann dieser Prozess gesellschaftlich begleitet werden, so dass die teilweise negativ wahrgenommenen Gebäude Akzeptanz finden?

Neben dem Erhalt einer baukulturell wichtigen Epoche wie auch bereits verbauter »grauer« Energie inspirieren uns dabei auch die häufig vergessenen sozialen Ansprüche der Moderne, beispielsweise ihre gemeinschaftlichen Wohnexperimente.

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