05.07.24

Die Bauausstellung 1924

Gastbeitrag von Prof. Dr. Klaus Jan Philipp

Bekanntlich hat der Erfolg viele Väter. So auch der Erfolg der Weissenhofsiedlung von 1927: Mies van der Rohe als künstlerischer Leiter, die Architekten der Häuser, der Verein »Werkbund-Ausstellung – Die Wohnung« und natürlich auch der Gemeinderat sowie die Verwaltung der Stadt Stuttgart. Wer aber hatte die zündende Idee für Siedlung und Ausstellung? Seit wann keimte der Gedanke, der modernen Architektur in Stuttgart ein Podium zu geben? Wir wissen es nicht! Aber eine günstige Gelegenheit bestand im Sommer 1924, als in Stuttgart auf dem Gleisbett des alten Bahnhofs, der heutigen Lautenschlagerstraße, die erste Bauausstellung nach dem Weltkrieg stattfand. Dort wurden nämlich neben Häusern, Baumaterialien und Baumaschinen auch Zeichnungen und Modelle aus dem Bauhaus in Dessau gezeigt. Gleichzeitig fand im ehemaligen Kronprinzenpalais an der Königstraße neben dem Königsbau eine Ausstellung des Deutschen Werkbundes statt. Dort wurde Kunsthandwerk gezeigt. Die Moderne, die drei Jahre später mit den Häusern und deren Einrichtungen auf dem Weissenhofsiedlung in Stuttgart Einzug hielt, war bereits 1923 medial präsent. Und man kann sich gut vorstellen, wie Stuttgarter Architekten und Architekturinteressierte vor den Entwürfen und Modellen von Walter Gropius, Georg Muche, Marcel Breuer oder Farkas Molnar standen und diskutierten, ob sich eine solche kubische, nackte Architektur auch für Stuttgart eignen könne.

Eine Million Menschen und 16.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche

Doch der Reihe nach! Die Bauwirtschaft hatte sich bis 1924 so weit erholt, dass die Staatliche Beratungsstelle für das Baugewerbe unter der Leitung des Architekten Hugo Keuerleber das Wagnis einer Bauausstellung auf immerhin 16.000 Quadratmetern Fläche einging. Mit eigens errichteten expressionistisch anmutenden Hallen, einem Turm als Eingangsgebäude gegenüber der kleinen Schalterhalle des neuen Bahnhofs, sieben komplett eingerichtete Musterhäusern, einer Vielzahl kleiner Pavillons, einem Turmkran und einer großen Bierschwemme unter einem Zollinger-Dach bot das Ausstellungsgelände ein reiches Programm für das zahlreich erscheinende Publikum. Schließlich sollen es eine Million Menschen gewesen sein, die die Bauausstellung auf dem ehemaligen Bahngelände und die zahlreichen weiteren Ausstellungen des »Kunstsommers« 1924 besuchten. Die im Maßstab 1:1 gebauten Musterhäuser waren freistehende Kleinbürgerhäuser für den Mittelstand, bei denen nicht die Form – fast alle waren Satteldachhäuser mit expressionistischen Details –, sondern die Baumaterialien und Bauweisen im Vordergrund standen. So einzeilige Hohlsteine beim Haus der Oberschwäbischen Bauindustrie AG, Gipsdielen beim Mackhaus oder das Tekton-Haus. Tekton war eine Erfindung des Stuttgarter Architekten Karl Christian Hengerer und bestand aus einer Grundmasse aus Zement, Sägespänen und Sand, in die Holzeinlagen fest eingebunden waren. Alle Häuser sollten dank der modernen Materialien preisgünstig sein und schnell errichtet werden können. Und sie sollten bei aller Einfachheit, dennoch auch eine gewisse Würde ausstrahlen. Die Einrichtungen waren sachlich und handwerklich aus traditionellen Materialien hergestellt. Es waren keine Stilmöbel, gegen die die Ausstellung »Die Wohnung« von 1927 polemisierte, aber auch keine der radikal-modernen Möbel.

Hugo Keuerleber, Bauausstellung Stuttgart, Blick auf das Freigelände mit Turmkran und Haupteingang gegenüber dem neuen Hauptbahnhof
Hugo Keuerleber, Bauausstellung Stuttgart, Blick auf das Freigelände mit Turmkran und Haupteingang gegenüber dem neuen Hauptbahnhof (aus: Die Bauzeitung XXI, Nr. 13, 7. Juni 1924, S. 311)
Blick aus der Kleinen Schalterhalle des neuen Hauptbahnhofs auf den Haupteingang der Bauausstellung (Stadtarchiv Stuttgart Signatur: F_44286)
Blick aus der Kleinen Schalterhalle des neuen Hauptbahnhofs auf den Haupteingang der Bauausstellung (Bild: Stadtarchiv Stuttgart)
Modellfoto der Ausstellungshallen (Bild: René Heusler)
Ausstellungs-Klebemarke (Bild: Anja Krämer)

Zwischen dem Stil der Zeit und radikalen Ideen

Das Ausstellungsgelände war geprägt von den expressionistisch gestalteten, raumgreifenden Hallen und zickzackförmigen Pavillons von Hugo Keuerleber. Einprägsam waren die Lichtkuppeln der Hallen entlang der späteren Lautenschlagerstraße. Eingebunden in das Ausstellungskonzept war auch die Halle des alten Bahnhofs und bestehende Funktionsgebäude – es war also ein gewisses architektonisches Potpourri, das den Besuchern entgegenschlug. Umso auffälliger ist das Plakat der Ausstellung von Hermann Müller, das sechs kubische im rechten Winkel zueinanderstehende eingeschossige Häuser mit Flachdächern zeigt. Solche Häuser gab es auf der Ausstellung gar nicht zu sehen, die hatten alle Steildächer! Dafür gab es jedoch ebenso starkfarbige Bauten wie auf dem Plakat. Irgendwie oszillierte die Ausstellung zwischen dem Stil der Zeit um 1924, nämlich einem zurückhaltenden, traditionelle Formen aufgreifenden Expressionismus auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem, was das Bauhaus in Weimar ein Jahr zuvor in seiner ersten Ausstellung an radikalen Ideen präsentiert hatte.

Bauhaus-Architektur in Plänen, Zeichnungen und Modellen

Diese Ideen waren nun im Jahr 1924 auch in Stuttgart zu sehen. Die Ausstellungsleitung hatte sich nämlich an Walter Gropius mit der Bitte gewandt, Zeichnungen und Modelle zur aktuellen Architektur am Bauhaus zu einer kleinen Ausstellung zusammenzustellen. Die meisten Projekte stellte Gropius (mit Adolf Meyer) selbst aus: Beginnend mit den Faguswerken in Alfeld/Leine ab 1911 und dem Büro- und Fabrikgebäude sowie der Maschinenhalle auf der Werkbundausstellung 1914 in Köln. Dann die Projekte aus den 1920er Jahren: so ein Modell für ein Serienhaus in Grundrissen, Ansichten und Perspektiven, die mit Adolf Meyer bearbeiteten Projekte für das Stadttheater in Jena (1921/22) und den Entwurf für eine internationale Philosophische Akademie in Erlangen-Spandorf mit einem Modell im Maßstab 1:50 und sieben Fotos. Nicht fehlen durfte der berühmte Entwurf aus dem Wettbewerb für ein Hochhaus der Chicago Tribune in einer großformatigen Zeichnung auf Karton von 1922.

Die anderen beteiligte Bauhaus-Architekten präsentierten Wohnhäuser. So die Architekturabteilung des Bauhauses das Einfamilienhaus am Horn in Weimar, wo es für die Ausstellung 1923 realisiert worden war. Weitere Entwürfe für variable Typenhäuser der Bauhaussiedlung korrespondierten mit Gropius’ Serienhaus. Georg Muche stellte ein Modell für ein Einfamilienwohnhaus und den Entwurf für eine Stadtwohnung als Hochhaus aus; Marcel Breuer eine Reihenhauswohnung und Farkas Molnar schließlich ein Einfamilienhaus. Es waren die modernsten Entwürfe zu kubischen Flachdachhäusern, die in eigenartigem Kontrast zu den ausgeführten Steildachhäusern der Ausstellung standen.

Bauhaus und Stuttgarter Schule vereint in Halle 4

Für die Bauhaus-Ausstellung war die Halle 4 der Ausstellung reserviert worden. Laut Orientierungsplan waren hier »Pläne und Modelle« ausgestellt, jedoch nicht nur des Bauhauses, sondern, gleichsam als weiteres Kontrastprogramm, Pläne und Modelle von Architekten der »Stuttgarter Schule«, wie Paul Schmitthenner erstmals im Jahr 1923 die Fakultät Architektur der Technischen Hochschule nannte. Leider ist nicht bekannt, was Schmitthenner, Paul Bonatz oder der Stadtplaner Heinz Wetzel im Sommer 1924 in Halle 4 ausstellten. Vermutlich jedoch typische Entwürfe dieser eher konservativen Schule, die sich gleichwohl von den expressionistischen Häusern durch Sachlichkeit und Werkgerechtigkeit abgrenzten. Also etwa den in Fertigstellung begriffenen Stuttgarter Hauptbahnhof, Ein- und Mehrfamilienhäuser sowie Siedlungen. Auch die Baugewerkschule, der Schwäbische Siedlungsverein und weitere Stuttgarter Architekten und Ingenieure präsentierten zahlreiche Entwürfe. Noch hatten sich die Architekten nicht in »Block« und »Ring« geteilt, noch respektierte man sich, und noch war das Thema Flach- oder Steildach keine ideologische Angelegenheit.

»Wir wollen wieder Städte, in denen wir nicht bloß sicher und gesund, sondern auch glücklich wohnen können.«

Die Ausstellungsleitung hatte mehrere Publikationen geplant, von denen jedoch der Katalog und zwei Hefte von »Das Baujahr« im Sommer 1924 erschien. Die in modernster Typographie gesetzten Hefte vereinigte einen Auszug aus E.T.A. Hoffmanns »Baurat Krespel« als Beispiel für »synthetisches Bauschaffen« mit Aufsätzen von Architekten und Stadtplanern: Zum ersten Heft tragen Walter Gropius und Bruno Taut Beiträge bei. Gropius schreibt zum »Ende des ›Kunstgewerbes‹ Beginn einer neuen Baugesinnung« und Taut zum »Städtebau«. Gropius Text erinnert in seiner Diktion an sein Bauhaus-Manifest vom April 1919: »Wir wollen den klaren organischen Bauleib schaffen, nackt und strahlend aus innerem Gesetz heraus ohne Lügen und Verspieltheiten, der unsere Welt der Maschinen, Drähte und Schnellfahrzeuge bejaht, der seinen Sinn und Zweck aus sich selbst heraus durch die Spannung seiner Baumassen zueinander funktionell verdeutlicht und alles Entbehrliche abstößt, das die absolute Gestalt des Baues verschleiert.« Taut entwickelt aus der Geschichte des Städtebaus heraus Fragen, wie der moderne Städtebau auf die neuen Fragen der modernen Gesellschaft und deren Raumbedürfnisse Antworten finden kann. Das zweite Heft des »Baujahrs« befasste sich dann folgerichtig mit der Frage »Wieviel Erde braucht der Mensch?« und zitierte aus der »Stadtkrone« Bruno Tauts und dessen zentralen These: »Wir wollen wieder Städte, in denen wir nicht bloß sicher und gesund, sondern auch glücklich wohnen können. Ablehnung der Mietskaserne, Erkenntnis, daß das kleine Einzelhaus, in Reihen gebaut, mit eigenem Garten wohl möglich und durchführbar ist.«

Auch der »Amtliche Katalog und Führer« zur Bauausstellung widmet sich kritisch den zentralen Fragen des Wohnens und des Wiederaufbaus nach den Zerstörungen des Krieges. Besonders wird Solidarität und Gemeinsinn gefordert: »Ein Sinnbild und eine Mahnung wesentlichen Denkens, ehrlichen Kunstschaffens und solider Arbeit, die der Einzelne der Gesamtheit schuldet, soll sie [die Ausstellung] sein und so das ihre am Wiederaufbau von Volk und Vaterland beitragen.« Letztlich wurde eine Reihe von 16 Vorträgen initiiert, die im Lichtspielsaal des Königsbaus und im Vortragssaal des Landesgewerbemuseums (heute Haus der Wirtschaft) gehalten wurden. Zentrale Themen der Ausstellung wurden von fachlich einschlägigen Architekten, Landschaftsplanern, Ingenieuren, Künstlern, Pädagogen, Denkmalpflegern und Historikern vermittelt. Bruno Taut sprach über »Die Wohnung als Schöpfung der Frau«, Erich Mendelsohn »Zur Architektur unserer Zeit«, Walter Curt Behrendt zur »Krisis der Großstadt«.

Gelegenheit die Bauausstellung 1927 zu planen

All dies waren Themen, die auch drei Jahre später auf der Werkbundausstellung virulent waren. Gelegenheit sich zu treffen, zu diskutieren und Pläne zu schmieden gab es bei den Vorträgen, in der Bauausstellung oder bei den weiteren Ausstellungen des »Kunstsommers«. Ludwig Mies van der Rohe nahm auf Veranlassung von Gustav Stotz, dem Doyen der Werkbundausstellung 1927, im Sommer 1924 an einer Feier im Atelier von Willi Baumeister teil – »mit Matrazen und Grammophon«, was wohl auf einen ausgelassenen Abend schließen lässt. Gelegenheiten, eine große moderne Bauausstellung zu planen, bestanden also im Sommer 1924 in Hülle und Fülle und sie wurden, wie wir aus der Geschichte der Weissenhofsiedlung wissen auch weidlich genutzt!

Es gab im Sommer 1924 noch weitere Gelegenheiten, sich mit den modernsten Entwicklungen in Zusammenhang mit der Bauausstellung zu informieren. Denn auf der Bauausstellung ging es ja, so wie dann auch 1927 auf dem Weissenhof, nicht nur ums Bauen selbst, sondern auch um die Einrichtung der Häuser vom Bett und Tisch bis hin zum Besteck. Und es ging auch um die Kunst, die in diesen Häusern präsentiert werden sollte, und sie so zu Gesamtkunstwerken machte.

Schwäbisches-Bilderblatt, 23. August 1924, Nr. 13, S. 3

Schwäbisches-Bilderblatt, 23. August 1924, Nr. 13, S. 3

Unter dem Label »Stuttgarter Kunstsommer 1924« fasste die Stadt eine Reihe von Ausstellungen zusammen, die in mehr oder weniger engem Verbund mit der Bauausstellung standen. Im Kunstgebäude von Theodor Fischer am Schlossplatz fand die Ausstellung »Neue Deutsche Kunst« statt. Gezeigt wurden expressionistische Bilder unter anderem von Oskar Kokoschka und Franz Marc, die ohne Zweifel die berühmtesten Künstler waren. So wie die Häuser auf der Bauausstellung, die ebenfalls noch dem Expressionismus verpflichtet waren, war der Expressionismus die führende moderne Kunst im Jahr 1924. Es gab aber auch Ausnahmen wie etwa Willi Baumeisters für einen Raum von Richard Döcker gestaltetes real-plastisches „Mauerbild“, das wie seine typografischen Beiträge auf die weitere Entwicklung abstrakter Kunst der späteren 1920er Jahre vorausweist.

Vor und in der Halle 9 der Bauausstellung war die vielleicht spektakulärste Ausstellung des Kunstsommers aufgebaut: Die Bilder und Plastiken der »Stuttgarter Sezession«, waren schrill und provokativ. Das von Reinhold Nägele gestaltete Plakat dieser Ausstellung verrät viel über die extremen Positionen, die die Künstler der »Sezession« vertraten. Verbindendes Glied dieser beiden Kunstausstellungen war die im Lindenmuseum zusammengestellte Schau zur »Kunst der primitiven Völker«, deren Objekte in nicht seltenen Fällen die Ideengeber für die Expressionisten gewesen waren. Das Schloss Rosenstein, damals als Weltkriegsbibliothek genutzt, beherbergte eine Ausstellung mit dem Titel »Das politische Plakat der neuesten Zeit«. Eher beschaulich ging es gegenüber diesen Ausstellung im Kunsthaus Schaller zu, wo »Schwäbische Malerei des 19. Jahrhunderts« zu sehen war.

Den engsten Bezug zur Bauausstellung hatte die vom Deutschen Werkbund ausgerichtete Ausstellung »Die Form ohne Ornament«. Im Stuttgarter Handelshof, der seine Räume im ehemaligen Kronprinzenpalais am Schlossplatz hatte, wurde modernes Kunsthandwerk vom Seifenstück bis zu Möbeln präsentiert. Die Ausstellung war vom Architekten Gustav Adolf Schneck eingerichtet worden, der die neoklassizistischen Räume des Kronprinzenpalais korrespondierend zu den gezeigten Objekten sachlich und nüchtern gestaltete. Alle Objekte der Ausstellung zeichnen sich doch hohe materielle und handwerkliche Qualität und Gediegenheit aus. Manche zeigen eine eher expressionistische Formgebung mit einer Tendenz zum Barock, wie etwa Stuhl und Tisch von Paul Schmitthenner. Sachlich und streng sind hingegen sind die vielen Einreichungen des Staatlichen Bauhauses Weimar, dem auch das Titelbild des Katalogs  von Baumeister verpflichtet ist. Zwischen diesen Polen standen die Arbeiten von Richard Herre, Schneck und Richard Riemerschmid.

Wer alle Ausstellungen besucht hatte, fand schließlich Erholung entweder in der Bierhalle mit Zollinger-Dach auf dem Bauausstellungsgelände oder auf der Gartenbau-Ausstellung. Zwischen blühenden Pflanzen auf dem Platz des Interimtheaters (heute Landtag) angelegt, schweifte der Blick auf einen expressionistischen Rundtempel aus Cannstatter Travertin des Architekten Gustav Leonhardt, dem Vater des berühmten Ingenieurs Fritz Leonhardt, der 50 Jahre später mit dem Bau des Fernsehturms begann.

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