Stimmen zur IBA’27
Druck im Kessel
Multiple Lösungen für ein soziales und produktives Miteinander – Die IBA’27 im Spiegel Internationaler Bauausstellungen
von Stefan Rettich
Es ist Druck im Stuttgarter Talkessel – die Mieten steigen in unbezahlbare Höhen, zumindest für all jene, die nicht zur gehobenen Mittelschicht gehören, keine Wohnung geerbt, oder ihr »Häusle« einfach nicht rechtzeitig gebaut haben. Das war aber unter anderen Vorzeichen schon einmal so, vor fast hundert Jahren. Auch deshalb ist das Aufkommen der Moderne eng verknüpft mit der Wohnungsfrage, wobei fraglich ist, ob sie mit dem Bau von Einfamilien- und Doppelhäusern, wie sie 1927 am Weissenhof ausgestellt wurden, tatsächlich hätte gelöst werden können. Denn schon 1957 wurde mit der Berliner Interbau das Wohnhochhaus in der Stadtlandschaft als Modell für den westdeutschen Nachkriegsstädtebau inszeniert. Gemeinsam mit der Mathildenhöhe in Darmstadt bilden der Weissenhof und das Berliner Hansaviertel die erste Phase der Internationalen Bauausstellungen, die sich allesamt mit modellhaften Lösungen für das Wohnen befassten.
Aber während man die Funktionen damals fein säuberlich getrennt hat und das leider noch immer tut, geht es heute um das genaue Gegenteil: Neue, emissionsarme Produktionsformen machen es möglich, dass die Funktionen wieder zusammenrücken. Am besten als Hybrid, wenn Industrie und Gewerbe die Wohnhäuser Huckepack nehmen. Kompakt, durchmischt und produktiv, so soll und kann die »Stadt von morgen« sein. Was die IBA’27 trotz Affinität zum Wohnen außerdem deutlich von den historischen Leuchttürmen unterscheidet: Sie will kein Demonstrationsquartier sein, das mit erhobenem Zeigefinger die Richtung weist. Viel eher ist sie eine Demonstration der multiplen Lösungen für soziales und produktives Miteinander.
Die zweite Berliner IBA, die sich 1987 ebenfalls dem Wohnen widmete, markiert ein Scharnier zu einer neuen Phase. Mit der behutsamen Stadterneuerung und der kritischen Rekonstruktion wurden zwei bis heute beachtliche Strategien der Innenentwickelung formuliert, und mit ihnen ein doppelter Paradigmenwechsel eingeleitet. Zum einen sollte es in Zukunft mehr um Prozesse gehen, als um die einzelne gute Architektur. Zum zweiten zeichnete sich zum ersten Mal eine Hinwendung zum Bestand und dessen Nutzer:innen ab. Die IBA wird in der Folge zu einem Instrument, das sich stärker mit sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Prozessen befasst, also mit Fragen der Nachhaltigkeit sowie auch mit der Qualifizierung von Prozessen. Dies geht einher mit einem gigantischen Maßstabssprung sowie Themen ökonomischen Strukturwandels.
»Das Aufkommen der Moderne ist eng verknüpft mit der Wohnungsfrage.«
Stefan Rettich
Bei den Bauausstellungen Emscher Park, Fürst Pückler Land und bei der jüngst abgeschlossenen IBA Parkland in den Niederlanden ging es um die Hinterlassenschaften der Montanindustrie einer ganzen Region, also um den Strukturwandel einer industriellen Monostruktur. In Stuttgart ist zwar der regionale Maßstab vergleichbar, und auch, dass ökonomische Fragestellungen verhandelt werden. Essenziell anders ist aber, dass man nach Lösungen sucht, wie die Diversität und enorme Produktivität mittelständischer Unternehmen in einer Wachstumsregion auch für die Zukunft gesichert werden können. Es geht also grundlegend um die Bodenfrage im regionalen Maßstab – nicht nur für das Wohnen, sondern auch für die soziale Marktwirtschaft.
Während aber die IBA der 1990er und 2000er Jahre in erster Linie Instrumente der Sanierung oder Stadtumbaus waren – dazu zählen auch noch die IBA Stadtumbau 2010 und die IBA Hamburg 2013 –, zeichnen sich die Projekte der IBA‘27 verstärkt durch Neubau aus. In der Region Stuttgart könnte man damit den sich gerade radikal abzeichnenden Paradigmenwechsel hin zum Bestand und zum Verständnis der Stadtregion als einer urbanen Mine verpassen. Denn überall werden Einzelgebäude der Spät- und Postmoderne aufgrund von Megatrends wie Digitalisierung oder Verkehrswende obsolet. Diese Obsoleszenzen zur Re-Programmierung von Bestandsquartieren zu nutzen, wird ein zentrales Thema der Zukunft. Es erscheint sinnvoll, dass die erst jüngst ins Programm aufgenommenen Innenstadtthemen und Mobilitätsstandorte in der Region in der zweiten Halbzeit stärker in den Fokus genommen werden.
Aktuell laufende oder jüngst abgeschlossene Bauausstellungen haben das Spektrum außergewöhnlicher Planungsaufgaben noch erweitert. In Heidelberg wurde die Wissensgesellschaft als Treiber der Stadtentwicklung verhandelt, die IBA Basel hat einen trinationalen Ballungsraum am Rhein in den Fokus gerückt und die IBA Wien hat das beeindruckende Räderwerk des Wiener Wohnbaumodells kritisch reflektiert, neu geölt und in gerade einmal sieben Jahren rund 19.000 Wohnungen neu gebaut oder instandgesetzt, eben falls mit einem Fokus auf das Quartier. Die IBA Thüringen, die in diesem Jahr ihren Abschluss begeht, hat das Verhältnis von Stadt und Land neu ausgelotet. Um Ähnliches zu machen, müsste sich die IBA’27 beispielsweise ins Verhältnis zur Schwäbischen Alb setzen und auch dort Projekte entwickeln. Muss sie aber nicht, denn jede IBA soll gerade ein eng umgrenztes programmatisches Terrain bearbeiten, eine Exzellenz auf einem abgesteckten Gebiet mit übertragbaren Modellen entwickeln.
In dem Ausnahmezustand auf Zeit, wie die Internationalen Bauausstellungen gern definiert werden, herrscht nicht immer Rückenwind. Gerade in den aktuell unsicheren Zeiten gibt es unerwartete Böen von der einen oder anderen Seite oder, wie seit dem russischen Angriffskrieg, anhaltenden Gegenwind. Material und Energiepreise sind rapide gestiegen, die Zinswende kommt hinzu. Es bleibt daher abzuwarten, ob sich die globalen Rahmenbedingungen wieder verbessern und die IBA’27 nach ihrem Bergfest 2023 mit mehr Ruhe auf die Zielgerade einbiegen kann.
Über den Autor
Stefan Rettich ist Architekt und Professor für Städtebau an der Universität Kassel. Von 2011 bis 2016 war er Professor für Theorie und Entwerfen an der Hochschule Bremen, zuvor lehrte er vier Jahre am Bauhaus Kolleg in Dessau. Stefan Rettich ist Gründungspartner und Mitinhaber von KARO* architekten. Er ist u. a. Mitglied des Expertenbeirats Urbane Resilienz sowie des IBA Expertenrats des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bau. Schwerpunkte seiner Arbeit bilden Grundfragen von Raum und Politik, die Verkehrswende im urbanen wie im ländlichen Raum sowie Strategien der nachhaltigenStadt- und Innenentwicklung.
Dieser Beitrag ist erschienen in unserem Reader »Stimmen zur Internationalen Bauausstellung StadtRegion Stuttgart«. Der Reader kann online als PDF heruntergeladen werden.