16.08.23

Werkbund im Gespräch – genossenschaftliches Wohnen

Die Stadtgruppe Stuttgart des Deutschen Werkbund Baden-Württemberg hat am 22.07.2023 zur zweiten Veranstaltung »Werkbund im Gespräch« im Rahmen des IBA’27 Festivals nach Stuttgart eingeladen. Anlass für die Veranstaltung ist der 23. Juli 2023, der Tag, an dem sich die Eröffnung der Werkbundausstellung »Die Wohnung« in Stuttgart zum 96. Mal jährt.

Treffpunkt für die Veranstaltung war die 1950 im Rahmen der ersten Deutschen Gartenschau von Rolf Gutbrod und Denes Holder entworfenen Milchbar – ein noch heute »überraschendes, belustigendes, amüsantes kleines Bauwerk« wie damals in der Bauzeitung zu lesen war.

Bild: Marlyse Kernwein-Janzer

Nachdem »Werkbund im Gespräch« im vergangenen Jahr unter der Überschrift »Stadt neu sehen – Stuttgart neu sehen« stattgefunden hatte, bei der sich die Teilnehmer:innen ausgehend von der Werkbundsiedlung am Weißenhof mit dem Oldtimerbus auf den Weg quer durch den Stuttgarter Talkessel hinauf zur Wohnstadt Asemwald, die in dem Jahr ihr 50jähriges Jubiläum feierte, gemacht hatten, und zurück in den Kessel zu den Wagenhallen gefahren waren, stand das Treffen in diesem Jahr ganz im Zeichen des genossenschaftlichen Wohnens.

Zur Einordnung des Themas gab Inken Gaukel (verantwortlich für den Wissensspeicher Weißenhof beim Landesamt für Denkmalpflege Baden-Württemberg) zunächst einen Überblick über die sechs in den Jahren 1927 bis 1932 in Europa erbauten Werkbundsiedlungen, von denen den fünf in der EU liegenden Siedlungen in Stuttgart, Brno, Wroclaw, Wien und Prag 2020 das Europäische Kulturererbe-Siegel verliehen wurde.

Die Siedlung Neubühl in Zürich Wollishofen unterscheidet sich nicht nur in diesem administrativen Punkt von den fünf anderen Werkbundsiedlungen. Die von einem Architektenkollektiv geplante Siedlung, ebenso wie die sechs Wohnungen im Haus 4 von Mies van der Rohe auf dem Weißenhof 1927, wurde bewusst als homogenes Ganzes geplant und mit einheitlichen Details ausgeführt. Darüber hinaus spielt die Genossenschaft Neubühl für die Entstehung und den Erhalt der Siedlung eine zentrale Rolle.

Bild: Marlyse Kernwein-Janzer

Daran anschließend gaben Karl Stammnitz und Damian Zangger, Mitglieder des Vorstands der Genossenschaft Neubühl einem ausführlichen Bericht zur Entstehung und zur heutigen Situation in der Werkbundsiedlung in Zürich, die in den Jahren 1928 bis 1932 vorrangig als genossenschaftliches Projekt geplant und realisiert wurde – die Beteiligung des Schweizerischen Werkbunds erfolgte eher »zufällig«.

Bis heute wird die Siedlung durch die Genossenschaft Neubühl betreut. Sehr deutlich wurden die Aufgaben, aber auch die Freude, beider Referenten, in der Gemeinschaft im Kulturgut Neubühl zu leben und das Erbe weiter entwickeln zu dürfen.

Bild: Marlyse Kernwein-Janzer

Nach diesen Ausführungen entwickelte Dr.phil. Gerd Kuhn, Wohnsoziologe und Stadtforscher
im Büro urbi_et Tübingen vor dem geschichtlichen Hintergrund des genossenschaftlichen Wohnens in Deutschland die These, dass der genossenschaftliche Gedanke immer dann im Laufe der Geschichte als Möglichkeit der Lösung kritischer gesellschaftlicher Situationen ins Blickfeld rückt, wenn eine Krise Missstände sichtbar macht.

Dies mag beleuchten, warum wir uns heute angesichts der Krise am Wohnungsmarkt wieder verstärkt Gedanken über das genossenschaftliche Wohnen machen. Ergänzend zeigte er Bedingungen und Möglichkeiten positiver Beispiele des gemeinschaftsorientierten Wohnens und der Verknüpfung von Nichtwohnnutzungen zur Stärkung gemeinwohlorientierter Projekte auf.

Bild: Marlyse Kernwein-Janzer

Unter der Überschrift »Vom Wohnbund zum Werkbund – Quartiere für die Stadt der Zukunft« zeigte Andreas Hofer als Intendant und Geschäftsführer der IBA’27, die Chancen und Potentiale auf, die sich durch genossenschaftlich getragene Projekte für den urbanen Raum bieten. Sein spannungsreicher Bogen reichte von frühen Beispielen in der Schweiz über realisierte Beispiele in Österreich und Deutschland bis zu aktuellen Projekten der IBA’27.

Besonders im Fokus steht heute die Verknüpfung von Wohnen und Arbeiten, Arbeiten in der Spanne von Dienstleistung bis hin zur Produktion, und ein transparenter Entwicklungsprozess.

Die Vielfalt der aktuell im Rahmen der IBA’27 StadtRegion Stuttgart diskutierten Projekte, lässt in den Inhalten, den im Experiment diskutierten Ansätzen aber auch in der Formensprache eine »Familienähnlichkeit« erkennen, die sich aber nicht auf einen gestalterischen Willen zur Form, sondern auf inhaltliche und ökonomische Notwendigkeiten zurückführen lässt.

Bild: Sigfried Gaß

Am Nachmittag begab sich die Teilnehmerinnen mit dem Oldtimerbus auf die kurze Fahrt nach Stuttgart Rot um das IBA’27 Projekt »Das genossenschaftliche Quartier am Rotweg« kennenzulernen. Dort erläuterte Martin Gebler, Leiter der Wohnungsverwaltung der 1948 von Bewohnern des Flüchtlingslagers Schlotwiese gegründeten Siedlungsgenossenschaft »Neues Heim« die Grundzüge der Erneuerung der ersten Nachkriegssiedlung Stuttgarts, die damals von mehreren Genossenschaften mit dem Ziel gebaut wurde, möglichst schnell preiswerten Wohnraum für Vertriebene und Kriegsheimkehrer zu schaffen.

Die anstehende Erneuerung, die neben dem Neuen Heim auch von der Baugenossenschaft Zuffenhausen vorangetrieben wird, soll heute nicht nur Wohnraum schaffen – es werden darüber hinaus sorgfältig die wesentlichen Qualitäten der Siedlung erörtert und auf die Nachbarschaft und den gemeinschaftlichen Quartiergedanken als grundlegende Idee gezielt. Fragestellungen zu heutigen Ansprüchen, Antworten auf heutige Aufgaben werden vorbildlich im Rahmen eines intensiven Beteiligungsprozesses moderiert und erarbeitet.

Mit dem Abriss der damals zuerst gebauten Zeilen und den Neubauten nach den Entwürfen von ISSS research architecture urbanism (Berlin) und Büro für Landschaftsarchitektur topografik (Marseille) zusammen mit EMT Architekten (Stuttgart) und StudioVlayStreeruwitz (Wien) wird zwischen den vorhandenen großkronigen Bäumen ein neues Quartierskonzept für eine komplexer werdende Gesellschaft realisiert. Geplant sind ca. 280 sehr unterschiedliche Wohnungen, eine inklusive Kindertagesstätte, eine Quartiersküche, Fahrradwerkstatt und Läden sowie Wohnraum für besondere Bedarfe. Dies soll Menschen aller Generationen in unterschiedlichen Lebensphasen gerecht werden.

Bild: Siegfried Gaß

Beim anschließenden von Grazyna Adamczyk-Arns, Projektleiterin des IBA’27 Projekts »Das genossenschaftliche Quartier Am Rotweg«, geführten Rundgang zu den an die genossenschaftliche Beteiligungskultur anknüpfenden Elemente vor Ort, wie der temporären Laborbühne, auf der sich Interessierte aktiv in den Planungsprozess einbringen können, dem Modell im Maßstab 1:33, das neben den stadträumlichen Qualitäten auch die Wohnsituation in den neuen Gebäuden zeigt, sowie den 1:1-Modellen, die Gebäudeabstände und die räumliche Nähe von Erschließungssituationen und privatem Freibereich aufzeigen, wurde die besondere Qualität der im Rahmen der Wohnraumoffensive BW des Ministeriums für Landesentwicklung und Wohnen Baden-Württemberg geförderten, innovativen Labor- und Beteiligungsformate deutlich.

Bild: Siegfried Gaß

Schließlich brachte der Bus die Teilnehmerinnen zum weiteren IBA’27 Projekt »Rosenstein Quartier C1 Wagenhallen – Wohnen und Werken in der Maker City«. Hier soll mit kreativen Pilotprojekten ein Stadtviertel entstehen, das ökologisch-soziales Wohnen mit Produktion, Kultur, Bildungs- und Forschungseinrichtungen sowie urbaner Landwirtschaft verbindet.

Mit der von a+r Architekten (Stuttgart) geplanten Interimsoper erhält das Quartier neben den bestehenden Wagenhallen einen weiteren zentralen kulturellen Impuls, der aber bestehende identitätsstiftende ökosoziale Projekte weiterhin eine Existenz sichern und die sozialen Treffpunkte an den bekannten Orten erhalten soll.

Im Tor 5 des Kulturvereins Wagenhalle berichteten dann Birgit Spaeth und Laurenz Theinert vom Verein »Neuer Norden – Kooperative für gemeinschaftliches Leben« über die Initiative, in der gemeinsamen Aktion die eigene Lebenssituation positiv in die Zukunft weiterzuschreiben und dabei die vielfältigen Perspektiven und die Kraft der Genossenschaft zu nutzen. Die sich anschließenden Fragen der Zuhörerinnen leiteten dann zum Abschluss des Tages über.

Jörg Berchtold, Siegfried Gaß / Stadtgruppe Stuttgart Deutscher Werkbund BW

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