18.09.23
Stimmen zur IBA’27

Vom Quantensprung im Wohnungsbau

Die IBA’27 StadtRegion Stuttgart – eine Antwort auf die Zukunftsfragen des Wohnungsbaus?

von Christa Reicher

Schon die Werkbundsiedlung auf dem Stuttgarter Weissenhof 1927 war in vieler Hinsicht ein Statement für einen innovativen Wohnungs- und Städtebau jener Zeit. Die Präambel zum städtebaulichen Ideenwettbewerb »Weissenhof 2027« beginnt mit den Worten: »Eine weltberühmte Siedlung feiert 100. Geburtstag. Ihr innovativer Geist lebt weiter!« Genau dieser Anspruch, den die Weissenhofsiedlung als international beachteter Meilenstein im Sinne eines Aufbruchs in Architektur, Kunst und Design im frühen 20.Jahrhundert verkörpert hat, gilt es jetzt unter anderen Vorzeichen und inhaltlichen Schwerpunkten weiterzutragen. Auch wenn die Rahmenbedingungen zur Zeit der Internationalen Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart andere sind, so ist die Frage des Wohnens nach wie vor eine der zentralen Herausforderungen.

Die sozialen, räumlichen und gestalterischen Aspekte des Wohnens finden ihren Niederschlag nicht nur in der Wohnung selbst, sondern in ihrem erweiterten Wohnumfeld. Guter Wohnungsbau ist demnach mehr als das einzelne Haus: Der Städtebau, die verkehrliche Anbindung, die Versorgungsangebote und die Gestaltung der Zwischenbereiche auf der Quartiersebene haben einen entscheidenden Einfluss auf die Wohnqualität und das soziale Miteinander. Das Quartier mit seinem sozialen und räumlichen Gefüge kann Nachbarschaft fördern und Heimat bieten.

Diesem Verständnis folgt das Postareal Böblingen mit dem Untertitel »Durchs Quartier in die Stadt«, indem es mit einem Hochpunkt das Ankommen am Bahnhof städtebaulich markieren und mit einer gemeinschaftlich nutzbaren Stadtterrasse in das neue Quartier mit grünen Höfen leiten will. Zwischen einer öffentlichkeitsorientierten Nutzung im Erdgeschoss mit Handel, Gastronomie, Produktion sowie Nutzungen für die Stadtgemeinschaft in den oberen Geschossen werden die Geschosse dazwischen durch unterschiedliche Wohntypologien gefüllt. Also ein in jeder Hinsicht hybrides Quartier, das Gemeinschaft und Vielfalt mit dem Anspruch an Urbanität verbinden will.

Die Ansprüche an das Wohnen haben sich verändert. Wo zuvor »nur« gewohnt wurde, muss der Wohnraum nun auch Platz bieten für das Arbeiten, das Home-Schooling und vieles mehr. Dieser Entwicklung können wir entgegensteuern, indem wir stärker auf Nutzungsneutralität und Anpassungsfähigkeit achten und damit mehr als nur Wohnen ermöglichen. Aber nicht nur das Wohnen, sondern auch das Handwerk und die Produktion verändern sich und sind heute wesentlich stadt- und wohnverträglicher, weil sie weniger Fläche benötigen und geringere Emissionen mit sich bringen.

Das Quartier C1 Wagenhallen mit dem Untertitel »Wohnen und Werken in der Maker City« am Stuttgarter Nordbahnhof ist auf genau dieses Miteinander von Wohnen und Arbeiten ausgerichtet. Mit dem Anspruch an ein hohes Maß an Vielfalt will das Kreativquartier ökologisches Wohnen, urbane Produktion und gemeinwohlorientierte Nutzungen miteinander verbinden. Auch das Quartier »Wohnen am Fluss in Untertürkheim« will zeigen, wie man Wohnen und Arbeiten miteinander verweben kann.

Im Zuge der Pluralisierung von Haushaltsformen und Lebensstilen verändert sich auch die Nachfrage nach Wohnraum. Insgesamt nehmen Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an diese sich ändernden Rahmenbedingungen an Bedeutung zu: Flexible Grundrissstrukturen, die Veränderung zulassen, anpassbar sind an die Nutzer:innen von morgen und deren Ansprüche an das Wohnen und Arbeiten.

»Guter Wohnungsbau ist mehr als das einzelne Haus.«

Christa Reicher

Die Nachfrage nach gemeinschaftlichen und generationenübergreifenden Wohnmodellen steigt. Diese Wohnmodelle können dabei zweierlei leisten: Sie sparen Wohnfläche und fördern Kommunikation und Austausch. Zugleich können die Wohnung und ihr Umfeld mit Begegnungsräumen und Versorgungsangeboten wesentlich dazu beitragen, dass Menschen sich zu Hause fühlen und eine gute Nachbarschaft entstehen kann. Aber wie entsteht die von uns so wertgeschätzte Gemeinschaft? Die IBA zeigt, wie experimentelle Wege beschritten werden können, ob das der Planungsprozess an sich ist, die temporäre Laborbühne oder Formen von Zwischennutzung. Dabei steht die genossenschaftliche Beteiligungskultur Pate für das Erproben von Gemeinschaft, wie die Projekte »Quartier am Rotweg« oder die Transformation des Wohngebietes »Zukunft Münster 2050« durch Baugenossenschaften eindrücklich zeigen.

In der aktuellen Debatte um die Zukunft des Wohnungsbaus werden vielfältige Wege aufgezeigt und Ambitionen aufgerufen: möglichst schnell errichtet im seriellen Bauen, mit nachhaltigen Baustoffen in Holz(hybrid)bauweise, im beschleunigten Genehmigungsverfahren, mit höchstem Energiestandard, anpassungsflexiblen Grundrissen, in urbanen Lagen in der Qualität des Einfamilienhauses im Grünen … Alle diese Erwartungen sind keinesfalls unrealistisch, aber sie müssen stärker integriert angegangen werden.

Durch nahezu alle bisher nominierten IBA-Projekte ziehen sich Aspekte wie vielfältige Wohntypologien, Nutzungsmischung, Begegnungsbereiche, ressourcenschonendes und energieautarkes Bauen nahezu wie ein roter Faden. Und die IBA leistet insbesondere mit ihren gemeinschaftsorientierten Bauträgermodellen und Baugenossenschaften einen wichtigen Beitrag zu einer sozial und ökologisch gerechten Stadtentwicklungspolitik und zeigt zugleich, dass bezahlbarer Wohnraum und eine qualitätvolle Architektur sich keineswegs ausschließen.

Eines ist offensichtlich: Um die ambitionierten Ziele zu erreichen, braucht es einen engen Schulterschluss zwischen den Fachexpertisen von Planer:innen, den Wohnwünschen der Bewohner:innen, dem Engagement der Investor:innen und der Wohnungswirtschaft sowie einen Rahmen, den die Internationale Bauausstellung mit ihrem Format eines »Ausnahmezustandes auf Zeit« liefert. Nur mit diesen Leitplanken und einem ganzheitlichen Blick kann ein Quantensprung in der Wohnungsfrage und im Städtebau gelingen. Und die IBA’27StadtRegion Stuttgart hat sich mit ihren Projekten einer Next-Practice auf den Weg gemacht, diesen längst überfälligen Quantensprung einzulösen. Alle Achtung!

Über die Autorin

Bild: Michel-Kitenge

Christa Reicher ist seit 2018 Inhaberin des Lehrstuhls für Städtebau und Entwerfen, Direktorin des Instituts für Städtebau und Europäische Urbanistik an der RWTH Aachen University. Seit 2023 hat sie den Unesco Chair »Cultural Heritage and Urbanism« inne. Sie ist Mitglied des IBA-Expertenrates des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen. 1993 gründete sie das Planungsbüro RHA Reicher Haase Assoziierte mit Sitz in Aachen und Dortmund. 2022 Großer Preis für Baukultur des Verbands Deutscher Architekten und Ingenieurvereine e.V. (DAI).

Dieser Beitrag ist erschienen in unserem Reader »Stimmen zur Internationalen Bauausstellung StadtRegion Stuttgart«. Der Reader liegt in gedruckter Form kostenlos in der IBA’27-Festivalzentrale (Königstraße 1c, Stuttgart – bis 23.09.23) aus und kann online als PDF heruntergeladen werden.

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