15.03.22
Winfried Kretschmann und Andreas Hofer im Gespräch

»Wir bauen jetzt die Häuser für die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts«

Doppelinterview mit Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann und dem Intendanten der Internationalen Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart, Andreas Hofer. Das Interview führte Roland Muschel für die Südwest Presse.

Mit der Weißenhofsiedlung hat die europäische Architektur-Avantgarde 1927 ein radikales Wohnprogramm vorgestellt. Was können wir heute davon lernen?

Andreas Hofer: Die zwanziger Jahre waren nach dem Trauma des Ersten Weltkriegs eine Umbruchzeit. Eine junge Generation suchte Zukunft, wollte das Bauen industrialisieren, Räume für neue Wohnformen schaffen, es herrschte Wohnungsnot. Viele dieser Themen beschäftigen uns auch heute. Faszinierend finde ich, dass von der ersten Idee im Gemeinderat für die Weißenhofsiedlung bis zur Ausstellungseröffnung nur ein Jahr vergangen ist. Das muss man sich heute mal vorstellen! Die Weißenhofsiedlung ist aber auch ein bisschen eine Puppenstube mit vielen Einfamilienhäusern, so radikal war das Programm gar nicht.

Herr Kretschmann, Ihre Regierung hat ein Bauministerium geschaffen, Ihr Staatsministerium plant einen Strategiedialog zum Wohnen.  Muss das Bauen neu erfunden werden?

Winfried Kretschmann: Es wird Zeit, dass wir 100 Jahre nach dem Bauhaus neue Antworten finden. Der Bausektor hat für Ressourcenverbrauch, Abfall und Emissionen eine gigantische Dimension. Allein die Zementherstellung ist für acht Prozent der Emissionen verantwortlich. Global geht über die Hälfte des Massenabfallaufkommens auf den Bausektor zurück. Wir müssen den Lebenszyklus von Gebäuden mitdenken und das Thema Kreislaufwirtschaft stärken, also die intelligente Wiederverwertung von Baustoffen wie etwa Recyclingbeton.

Andreas Hofer: Angesicht langer Planungszeiten und langer Lebensdauer bauen wir jetzt die Häuser für die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts, die im Klimawandel in einer postfossilen Gesellschaft funktionieren müssen. Das ist nicht jedem bewusst, der jetzt den Keller aushebt.

Muss der Fokus auf nachhaltigem Bauen oder auf Sanierungen liegen?

Andreas Hofer: Der Bestand ist der Schlüssel für nachhaltiges Bauen, allein schon wegen der riesigen bereits verbauten Materialmengen. Wir müssen also vor allem nachhaltig sanieren und umbauen. Große Teile des Bestands sind aber für die überkommene Idee der autogerechten Stadt gebaut worden. Diese auf Weite ausgerichtete Struktur ist eine denkbar schlechte Grundlage für die Stadt der Zukunft, wo Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad erledigt werden können und wo man riesige Produktionshallen nur noch eingeschränkt benötigt. Diese Strukturen müssen wir um- und weiterbauen.  

Winfried Kretschmann: Denken Sie mal an mittelalterliche Städte wie Siena, die waren städteplanerisch innovativ gedacht – mit starken, durchmischten Zentren. Da müssen wir wieder hin. Und auch die strikte Trennung von Gewerbe und Wohnen ist in einem Zeitalter der emissionsfreien Produktion überholt.

Neubauten können Innovationen befördern, aber auch den Flächenfraß. Ein unauflösbares Dilemma?

Andreas Hofer: Es gibt genügend Einfamilienhäuser in diesem Land, die schlecht erschlossen, schlecht isoliert und nach dem Auszug der Kinder für ihre betagten Bewohner auch schlicht zu groß sind. Wenn man jetzt neu baut, sollten wir aus ökonomischen und ökologischen Gründen in einer gewissen Dichte, Größe und Höhe bauen, aber nicht weitere Einfamilienhäuser.    

Winfried Kretschmann: Klar, wir brauchen viel mehr Nachverdichtung, serielles Bauen etwa mit nachhaltigen Baustoffen wie Holz. Baukultur heute ist vor allem auch Umbaukultur. Aber ich sehe es nicht so dogmatisch. Ich habe mein Garagendach mit Fetthennen und Mauerpfeffer begrünt. Es ist dem Schmetterling egal, wo das wächst. Auch Gärten und Dächer in der Einfamilienhaussiedlung können den Artenreichtum befördern – mehr als Maisäcker. Als die CDU noch in der Opposition war, hat sie sich über Fassaden-Begrünung lustig gemacht. Heute wissen wir: Wenn wir nicht klimagerecht bauen, werden manche Städte infolge der Klimaerhitzung gar nicht mehr bewohnbar sein.

Andreas Hofer: Die Fassadenbegrünung halte ich auch für eine Mode, da sie sehr aufwändig und im Unterhalt sehr teuer ist. Grundsätzlich müssen wir den Anspruch haben, dass ein Haus den Umweltnutzen erhöht. Mir fällt auf, dass man in Süddeutschland stark auf Kleinteiligkeit setzt. Wir brauchen aber größere Einheiten als Baugruppenprojekte mit 15 Parteien, wenn wir ökologische Ansprüche oder den Tausch von Wohnungen mitdenken. Für lebenswerte, bezahlbare und effiziente Quartiere braucht es Dichte und Größe. Abfallfreies Bauen etwa ist komplex, das traue ich einer kleinen Baugruppe nur bedingt zu.

Winfried Kretschmann: Städtebau ist Kernbestand kommunaler Selbstverwaltung. Nirgendwo haben Gemeinderäte so viele Freiheiten, aber eben auch Gestaltungsspielraum wie bei der Ausweisung eines Baugebiets. Da wünsche ich mir mehr Innovationsgeist. Wir als Gesetzgeber flankieren das durch Regeln…

…wie der Ausweitung der Photovoltaikpflicht auf Neubauten.

Winfried Kretschmann: Mit der Photovoltaik wird die riesige Dachfläche des Landes zu einer Infrastruktur für die Stromerzeugung mithilfe der Sonne, die umsonst scheint. Wir wären doch blöd, wenn wir diese Möglichkeit nicht nutzen würden.

Andreas Hofer: Heute ist Photovoltaik die günstigste Form der Energieerzeugung. Aber es gibt so viele Regeln, dass viele Menschen zurückschrecken. Das ist ein generelles Problem. Ein Baugesuch für einen Holzbau wird in vielen Bauverwaltungen hin- und hergeschoben nach dem Motto: Wer will den Ärger und die Mehrarbeit? So können wir keine Zukunft gestalten.

Ist Deutschland überreguliert, Herr Kretschmann?

Winfried Kretschmann: Aber hallo! Ein schwäbischer OB hat mir kürzlich erzählt, dass die Planung einer Freiflächen-Photovoltaikanlage acht Jahre gedauert hat. Wir können in Deutschland durch Aufstockungen bis zu 2,8 Millionen Wohnungen bauen. Aber bei so langen Planungsprozessen fängt erst gar keiner an. Da müssen wir politisch ran – und zwar radikal! Auch dafür starten wir einen neuen Strategiedialog zum Wohnen, der alle Akteure zusammenbringt.

Sie haben den internationalen Vergleich, Herr Hofer. Sind die Deutschen besonders regelungswütig?

Andreas Hofer: Die deutsche Besonderheit ist, dass man hier besonders stark reguliert und die Vorschriften auch noch penibel durchsetzt. Diese Mischung ist toxisch.

Wie kann die Politik für mehr bezahlbaren Wohnraum sorgen?

Winfried Kretschmann: Meine Vision ist, dass der Boden der Kommune gehört. Sie kann ihn vermieten, verpachten, leasen; entscheidend ist, dass der Boden nach einer gewissen Zeit an sie zurückfällt. An der Stelle bin ich ziemlich links. Die exorbitanten Mietsteigerungen weltweit sind Folge von Marktspekulationen. Bezahlbares Wohnen ist aber ein soziales Grundbedürfnis. Daher müssen wir die Kommunen beim Vorkaufsrecht weiter stärken.

Andreas Hofer: Im Stuttgarter Westen, wo ich lebe, schreitet mit jedem Mieterwechsel die Gentrifizierung voran. Sobald eine Wohnung frei wird, wird sie saniert und dann für das Dreifache vermietet, das ist doch verrückt! Eine Stadt als sozialer Organismus muss mindestens ein Drittel der Wohnungen dem Markt entziehen. Nur: Deutschland ist die letzten 30 Jahren den umgekehrten Weg gegangen, bis 2010 wurden kommunale Wohnungsbestände verkauft.

Herr Kretschmann, Sie sind Hausbesitzer. Wie wichtig ist Ihnen das?

Winfried Kretschmann: Ein Haus zu besitzen, ist etwas Schönes. Ich wohne in einem Bauernhaus, das über 200 Jahre alt ist. Das Erstaunliche ist, dass man damit auch im 21. Jahrhundert gut leben kann. Viele Leute, die zu uns kommen, finden es gemütlich, in der alten Stube zu hocken. Klimaneutral kriege ich das, wenn ich den Charme erhalten will, aber nur durch eine Pelletheizung. Das ist der nächste Schritt.

Herr Hofer, Sie waren in jungen Jahren mal Teil einer Hausbesetzerszene. Können Sie die Faszination Eigenheim nachvollziehen?

Andreas Hofer: Den Charme des 200 Jahren alten Bauernhauses sehe ich schon. Ich sehe ihn weniger in dieser styroporgedämmten Einfamilienhaussiedlung an der Peripherie der Region Stuttgart – ohne ÖPNV, ohne Nahversorgung, ohne Möglichkeit, bei Bedarf die Wohnfläche zu reduzieren.

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