09.08.21
Rückblick

IBA’27-Plenum #7: Die produktive Stadtregion

Der moderne Städtebau hat den Raum in unterschiedliche Sphären zerteilt. Orte des Wohnens sind entstanden, entfernt davon Zonen des Arbeitens und Produzierens. Hier Areale für Konsum, da für Freizeit, dort für Kultur: getrennte Welten, verbunden durch grobe, immer von neuem überlastete Verkehrsbauwerke. Die Probleme der Zersiedelung sind hinlänglich erforscht und beschrieben. In der Region Stuttgart, wo Wohnen, Dienstleistung, Infrastrukturen neben einer weiterhin starken industriellen Produktion gemeinsam existieren, erscheinen Konzepte, den Monofunktionalismus zugunsten einer gemischten und lebendigen Form von Stadt zu überwinden, besonders naheliegend.

Wie aber kann es gelingen, die Hürden in den Köpfen und Gesetzen zu überwinden, um Menschen und Maschinen so zusammenzubringen, dass eine lebenswerte, sozial, ökologisch und wirtschaftlich zukunftsfähige Stadtregion entsteht? Wie können Stadt, industrielle Fertigung, Handwerk, Forschung und Kreativität wieder zueinanderfinden? Weil diese Frage nach der »produktiven Stadt« den Kern der Identität der Region Stuttgart berührt, ist sie der zentrale Themenraum der IBAʼ27.

Das siebte Plenum der Bauausstellung widmete sich der produktiven Stadtregion in einer dreitägigen Veranstaltung. Auf den Themenaufriss des ersten Abends folgte am zweiten Tag die praktische Workshoparbeit an drei IBAʼ27-Projekten. Der dritte und letzte Tag führte die Lösungsansätze aus den Workshops zusammen, präsentierte sie der Öffentlichkeit und verhandelte sie in einer Abschlussdiskussion erneut.

Impulsreferate als Auftakt

Den Auftakt zum Plenum #7 machte am Mittwochabend eine Reihe inspirierender Impulse. Nach der Begrüßung durch IBAʼ27-Intendant Andreas Hofer fragte Prof. Ute Meyer (urbanes.land, Hochschule Biberach / LSE Cities Network), an welchen Orten der Region Stuttgart Urbanität heute am ehesten zu finden sei. Betrachte man das polyzentrische Siedlungsgeflecht, kehre sich das traditionelle Bild fast um – Urbanität sei in der Peripherie häufig eher vorhanden als in den Zentren. Meyer fordert für die Transformation der Stadtregion neue Koalitionen und Kooperationsformen, um rechtliche, finanzielle und technische Hindernisse zu bewältigen, dazu eine moderierende Planung. Ihrer Ansicht nach könne »die IBA hier der Schlüssel zur Entwicklung eines großen Ganzen sein«.

»Ein Bild vom Quartier« zeichnete Markus Penell, (O&O Baukunst, Berlin) am Beispiel eines mittelalterlichen Stiches der französischen Stadt Arles. Das Bild habe die Architekten bei der Arbeit am Projekt »Siemens-Stadt« in Berlin inspiriert: Dichte und Mischung seien hier entscheidende Faktoren, zudem müsse eine stringente Verbindung zwischen Städtebau und Architektur zurückerobert werden.

Heidi Pretterhofer (IBAʼ27-Kuratorium, Pretterhofer Arquitectos, Wien) setzte sich anhand eines Schwarzplans der Stadtregion Stuttgart mit dem »Bild der Stadtregion« auseinander, das ihrer Ansicht nach keine theoretische Fiktion ist, sondern gelebte Realität mit konkreten Wünschen und Möglichkeiten. Kontrovers wurde in diesem Zusammenhang die Frage diskutiert, inwieweit städtebauliche Planung – vor dem Hintergrund der Macht des Marktes – überhaupt richtungsweisend sein kann.

»Gemeinschaft braucht mehr als Spielplätze oder Gemeinschaftsräume« forderte Ricarda Pätzold (Deutsches Institut für Urbanistik, Berlin) in ihrem Impulsvortrag »Ein Bild des Zusammenlebens«: Es brauche kontinuierliche Partizipationsprozesse – auch im Betrieb fertig gestellter Quartiere. Menschen müssten eingeladen und mitgenommen werden, nur dann könne dauerhaft echtes Miteinander stattfinden.

Der vierte Impuls von Sven Thorissen (MVRDV, Studio Berlin) präsentierte schließlich am Beispiel des »Werk 12« im Münchner Werksviertel ein »Bild der Architektur«. Thorissen führte aus, welche Parameter bei Umnutzungsprozessen bestehender Areale und Gebäude entscheidend seien: Neben aktuellen gesellschaftlichen Werten, so der Architekt, sollten identitätsstiftende Ankerpunkte, eine mutige Gestaltung, sowie Multifunktionalität in die Transformation einfließen.

Zur Aufzeichnung des Eröffnungsabends

Workshops an drei IBAʼ27-Projekten

Am zweiten Tag des Plenums wurden in drei geschlossenen Workshops die IBAʼ27-Projekte Der neue Stöckach (Stuttgart), Produktives Stadtquartier Winnenden und das Quartier Neckarspinnerei (Wendlingen-Unterboihingen) mit Fachleuten weiterentwickelt.

Im Workshop für die Neckarspinnerei war die industrielle Vorgeschichte des Areals ein zentrales Thema: Welche Impulse aus der produktiven Historie können für die Zukunft des direkt am Neckar liegenden Quartiers identitätsstiftend sein? Fazit von Markus Schäfer (Hosoya Schäfer, Zürich): »Eine unglaubliche Immobilie mit einem unglaublichen Charisma. Unsere Aufgabe im Workshop war, diesem Ort, der mal ein Ort der Produktion war, neue Inhalte zu verleihen und die Chancen der Vergangenheit in die Zukunft zu überführen.«

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Auf dem ehemaligen Betriebsgelände der EnBW soll mit dem Neuen Stöckach ein gemischt genutztes Quartier in Stuttgart-Ost entstehen. Im Workshop wurde die besondere Bedeutung einer flexiblen Nutzung herausgearbeitet, die über die zuvor anvisierte Gewichtung von 80 Prozent Wohnen und 20 Prozent Arbeiten hinaus gehen solle. Vor allem – so ein Ergebnis des Tages – könnten zwischen den einzelnen funktionalen Bereichen Übergangszonen als »atmende Strukturen« entstehen. Das neue Quartier solle eine eigene Agenda setzen und zugleich die produktive Identität bezüglich Energie und Infrastruktur in die Zukunft tragen. Um dies zu verwirklichen, streben die Projektträger ein gezieltes Kuratieren der Nutzungsmischung an.

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Ziel des Workshops für das Produktive Stadtquartier Winnenden – das im städtebaulichen Entwurf des Büros JOTT architecture and urbanism eine radikale Nutzungsmischung in neuartigen Typologien vorsieht – war die Entwicklung eines Katalogs von Ideen und Lösungsvorschlägen zur Umsetzung und langfristigen Sicherung der Mischung von Produktion und Wohnen im Quartier. Der Austausch diente jedoch auch der Identifikation möglicher Hindernisse. Markus Schlecht, Leiter des Stadtentwicklungsamts Winnenden, nannte beispielsweise den Lärmschutz. Lösungen für eine tragfähige Anordnung der Funktionen und Räume zu finden, sei eine zentrale Herausforderung. Weiterhin gehe es, so Sacha Rudolf, Projektleiter der IBAʼ27, um »die Schaffung von Organisationsstrukturen, die die Menschen in diesem urbanen Quartier zusammenführen und die auch Plattformen für Dialog und Austausch sein können.« Die Forderung nach einem Quartiersmanagement zog sich denn auch als roter Faden durch alle Diskussionen.

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Zusammenführung und Diskussion im öffentlichen Plenum

Das öffentliche Plenum mit der Präsentation der Workshop-Ergebnisse folgte am Freitagabend. Andreas Hofer umriss in seinem einleitenden Impulsvortrag nochmals seinen Begriff einer »Produktiven Stadtregion«. Er zeichnete das Bild einer konsequenten Nutzungsmischung, die deutlich über Wohnen plus Gastronomie oder Dienstleistungsgewerbe hinausgeht. Veränderte Produktionsweisen, so Hofer, die Digitalisierung, neue Mobilitätskonzepte und eine Rückkehr der Bedeutung regionaler Ökonomien brächten Funktionen und Menschen, Stadt und Produktion wieder zusammen. Nach Dekaden der räumlichen Trennung, Spaltung und Fragmentierung gehe es nun darum, zu versöhnen, raumplanerisch, architektonisch, ökologisch und sozial. »Wir müssen mit der bestehenden Stadt, mit ihrer industriellen Vergangenheit sorgsam und behutsam umgehen. Wir müssen sie weiterentwickeln, ergänzen, verdichten, mit neuen Funktionen versehen«, so der IBAʼ27-Intendant. Und das müsse in der Fläche erfolgen: »Die Zeit der Leuchttürme ist vorbei, wir müssen jetzt Wandel gestalten.«

Nach der öffentlichen Vorstellung der Workshop-Ergebnisse diskutierten Prof. Janna Hohn (JOTT architecture and urbanism, Frankfurt), Andreas Krüger (Belius GmbH, Berlin), Frank Gwildis (Amt für Stadtplanung und Wohnen, Landeshauptstadt Stuttgart) und Alexander Lenk (Real Estate and Facilities, Robert Bosch GmbH) über die Voraussetzungen und Chancen einer forcierten Nutzungsmischung. Frank Gwildis plädierte für die konsequente Öffnung der Erdgeschosse für Gewerbe, Produktion, soziokulturelle und kreative Nutzungen. So könnten öffentliche Räume und »Aura-Zonen« geschaffen werden, die in den Quartieren für Lebensqualität sorgten. Alexander Lenk sprach sich gar dafür aus, »die Fassaden einfach mal wegzureißen« um mutig öffentliche und gemischt genutzte Räume zu schaffen. Um potenzielle Nutzerinnen und Nutzer für diese Quartiere zu finden, schlug Janna Hohn eine Börse vor, die wie beim Speed-Dating Interessenten erstmal zusammenbringen könne, um Interessen zu bündeln und Koalitionen zu schmieden. Alexander Lenk zeigte sich offen: Bosch baue nicht nur bereits hochwertige Werkswohnungen, um Mitarbeiter aus der ganzen Welt in die Region zu locken. Das Unternehmen könne sich durchaus vorstellen, Teil des produktiven Quartiers in Winnenden zu werden. Kooperationen mit weiteren Unternehmen aus der Region, mit Kommunen oder Projektentwicklern seien dabei sehr gut denkbar, schließlich sei Boden ein endliches Gut und man könne und müsse mit neuen Betriebsmodellen auch »wieder ein Stück sozialer« werden.

Für Modelle der Erbpacht und konsequente Vergaben im Konzeptverfahren sprach sich Frank Gwildis aus, auch wenn die Stadt Stuttgart hier noch wenig Erfahrungen besitze. »Für mich ist die produktive Stadtregion genau diese Vernetzung zwischen produktiv-tüftlerischen, sozialen und gemeinwohlorientierten Ansätzen, die alle für sich richtig und auch widersprüchlich sind. Diese Reibung ist wichtig und ich wünsche mir, dass diese Themen und Gedanken im Verlauf der IBA noch stärker zusammenfinden.«

Das Fazit zum Plenum kam erneut von Prof. Ute Meyer: »Ein zentraler Punkt dieses Plenums ist für mich das ‘Grenzen einreißen’ und die Chance, die darin steckt; die Paranoia ablegen, ganz neu miteinander in Kontakt treten, mit der wirklichen Absicht, die gewerblichen und die produktiven Prozesse wieder näher an die Menschen zu bringen; zu sagen, wir schauen, wie das geht und verstehen, dass diese Nutzungen für alle Beteiligten ein Gewinn sein können, weil Stadt eigentlich ja auch von Arbeit lebt.«

Zur Aufzeichnung des dritten Tages

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