22.04.22
Einblicke

IBA’27-Projekt »Hangweide« (Kernen)

Als Teil der »Heil- und Pflegeanstalt für Epileptische und Schwachsinnige« Stetten war die Hangweide, südwestlich von Rommelshausen in einer Senke am Beibach gelegen, seit 1937 eine »landwirtschaftliche Kolonie mit 15 männlichen Pfleglingen«. Die Bewohner der ehemaligen Ölmühle wurden – wie insgesamt 330 Patientinnen und Patienten der Anstalt Stetten – 1940 von den Nationalsozialisten deportiert und in den Tötungsanstalten Grafeneck und Hadamar ermordet. Ihre Gebäude wurden von SS und Luftwaffe beschlagnahmt, schließlich von den Alliierten zerstört.

Im Mai 1946 nahm die Hangweide den Betrieb wieder auf, unter ärmlichsten Bedingungen. 1954 lobte der Verwaltungsrat der Anstalt Stetten einen Architekturwettbewerb aus, aus dem der Entwurf des ehemaligen Freikorpskämpfers, NSDAP-Mitglieds und NS-Stadtbaudirektors in Weimar, Rudolf Rogler, als Sieger hervorging. Die Hangweide wurde »Modellprojekt«. Acht Wohnhäuser für 320 Menschen samt Gemeinschaftshaus sowie Häuser für Mitarbeiter sollten eine »dorfartige Siedlung mit großen Freiflächen zum Spiel und Spaziergang« bilden. Eine Anlage, so der Architekt, die »auch dem schwerfälligsten Gemüt leicht Heimatgefühle vermitteln« solle. Die »Heimat« schrieb den eingeübten Geist des Lagers fort: Hermetisch abgezäunt, von der Mehrheitsgesellschaft an den Rand gedrängt, erzählt die Hangweide weniger die Geschichte eines intakten Dorflebens als die von Ausgrenzung und Isolation. Männer und Frauen waren streng separiert, die gut bewachte Pforte verhinderte ungewollte Begegnungen.

Mit der langsamen Demokratisierung der Bundesrepublik öffnete sich auch das »Modellprojekt«: Das 1973 gebaute Schwimmbad wurde öffentlich, die Produkte der Gärtnerei waren auch in Rommelshausen beliebt. Die UN-Behindertenrechtskonvention von 2008 entsorgte ausgrenzende Wohnkonzepte wie die Hangweide auf den Müllhaufen der Geschichte. 2022 werden die Häuser abgebrochen, die Entwicklung zum IBA’27-Projekt sieht ein vielfältig durchmischtes, inklusives Quartier vor, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft, Identität und Leistungsfähigkeit selbstbestimmt zusammenleben. (Fotos: die arge lola)

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