01.08.22
Rückblick

Das Erbe der Moderne. IBA’27-Plenum, Städtebaulicher Ideenwettbewerb »Weissenhof 2027«, Baukulturwerkstatt und internationales IGmA-Symposium

Im Präsentationsjahr der Internationalen Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart feiert eine Ikone der klassischen Architekturmoderne, die Weissenhofsiedlung, ihren einhundertsten Geburtstag. Viele Setzungen der bei ihrem Bau um Mies van der Rohe versammelten Avantgarde entwickelten sich über die »Charta von Athen« zum bestimmenden Leitbild der Moderne in Architektur und Stadtplanung. Ihre ganze Wucht entfaltete die Ideenlehre in den großen Gebäudekomplexen der 1960er und 70er Jahre und in der funktionalistischen Zerteilung unserer Städte und Landschaften. Heute, herausgefordert von ökologischen und politischen Krisen in immer kürzeren Abständen, ringen Architektur und Stadtplanung mit diesem Erbe. Selbst wenn die triumphal-maskuline Geste der Avantgarde heute befremdlich wirkt, so imponiert doch der Optimismus, mit dem sie auf die Herausforderungen ihrer Zeit zu antworten versuchte. Welches Planen und Bauen also wäre in der gegenwärtigen Zeitenwende »modern«?

Ausgehend von der Befragung der Situation am Weissenhof in einem städtebaulichen Ideenwettbewerb veranstaltete die IBAʼ27 in Kooperation mit der Bundesstiftung Baukultur, dem Institut für die Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen der Uni Stuttgart (IGmA), dem Land Baden-Württemberg, der Landeshauptstadt Stuttgart, der Wüstenrot Stiftung und vielen weiteren Partnern vom 29.6. bis 01.07.2022 ein dreitägiges Symposium zum Umgang mit dem baulichen und ideengeschichtlichen Erbe der Moderne.

Den Auftakt machte der Besuch dreier IBA’27-Projekte in Sindelfingen, Backnang und Fellbach im Rahmen der Baukulturwerkstätten der Bundesstiftung. In Sindelfingen geht es um die Transformation einer Großklinik in ein lebendiges Wohnquartier, in Backnang um die Transformation des ehemaligen Gerbereiviertels samt Wiederentdeckung des Flüßchens Murr. Die Stadt Fellbach stellt sich der Aufgabe, Produktionsweisen zueinander zu bringen, die bisher getrennt sind und doch viele Herausforderungen teilen: Handwerks-, Handels- und Zulieferbetriebe auf der einen, Landwirtschaft auf der anderen Seite.

Ideenwettbewerb Weissenhof 2027

Der Abend des ersten Tages präsentierte die fünf Siegerentwürfe des von Land Baden-Württemberg, Landeshauptstadt Stuttgart und IBA’27 gemeinsam ausgeschriebenen Ideenwettbewerbs »Weissenhof 2027«. Die Jury unter Vorsitz von Prof. Dörte Gatermann hatte aus 35 Einreichungen die Arbeit der Stuttgarter Arbeitsgemeinschaft Schmutz & Partner Freie Architekten Innenarchitekten PartG mbB mit Scala Freie Architekten Stadtplaner und Pfrommer + Roeder GbR zum Sieger gewählt und vier weitere Preise vergeben. Alle prämierten Arbeiten bezogen sich schwerpunktmäßig auf das Zusammenspiel zwischen erweiterter Kunstakademie, Weissenhofsiedlung und Brenzkirche, sowie die Transformation und Verknüpfung des öffentlichen Raums und nur sehr zurückhaltend auf die denkmalgeschützte Werkbundsiedlung selbst. Prof. Yasemin Utku, die zum Abschluss des Abends mit Prof. Vittorio Magnago Lampugnani und IBA’27-Intendant Andreas Hofer über »Perspektiven im Umgang mit der Architekturmoderne« diskutierte, hätte sich – stellvertretend für viele Anwesende – denn auch mehr Mut und eine im Hinblick auf die aktuellen Herausforderungen zeitgemäße Aufgabenstellung des Ideenwettbewerbs gewünscht.

Neue Umbaukultur statt Tabula rasa

Tag zwei war, eröffnet von Staatssekretärin Andrea Lindlohr (Ministerium für Landesentwicklung und Wohnen Baden-Württemberg) und Reiner Nagel (Vorstandsvorsitzender Bundesstiftung Baukultur), dem Primat des Bestandserhalts und den Herausforderungen seiner Transformation gewidmet: In jener »neuen Umbaukultur«, die auch im Zentrum des Baukulturberichts 2022/23 stehen wird, sieht die Bundesstiftung nicht nur den Schlüssel für das Erreichen der Klimaziele im Bausektor, sondern auch eine Möglichkeit, unsere Städte sozial und funktional gemischter, gerechter und lebenwerter zu gestalten. Nachdem in Gruppen vertiefend an den tags zuvor besuchten IBA’27-Projekten gearbeitet worden war, appellierten Reiner Nagel und Inga Glander, Verantwortliche für den Baukulturbericht der Bundesstiftung, daran, Denkgewohnheiten zu ändern und rechtliche Barrieren abzubauen: Um-, und Weiterbau statt Abriss, die Etablierung einer echten Kreislaufwirtschaft im Bausektor, Nutzungsmischung, Mehrfachnutzungen, neue Typologien und Materialien, mehr Augenmerk auf Gemeinschaft und öffentlichen Raum, so lautete ihr Plädoyer für die Bauwende.

Die Architekturmoderne in alphabetischer Reihenfolge

Der Freitag brachte mit dem IGmA-Symposium »Index of Modern Architecture« in der von den Nationalsozialisten verstümmelten, ursprünglich im Stil der Neuen Sachlichkeit erbauten Brenzkirche, ein Panoptikum aus rund 30 Kurzvorträgen zu zentralen Begrifflichkeiten der Architekturmoderne, vorgetragen von profilierten internationalen Expertinnen und Experten. Aspekte der Abkehr vom heroischen Planergestus hin zum ambitionierten Bastler (»Bricolage«, Tom Emerson) wurden ebenso beleuchtet wie die der Moderne häufig inhärente koloniale Attitüde (»The Racial«, Tazalika M. te Reh) oder der für den Durchbruch der klassisch modernen Architektur zentrale Fixpunkt der Gesundheit (»Tuberculosis«, Beatriz Colomina).

Am Abend feierte die IBA’27-Community gemeinsam mit Ministerin Nicole Razavi (Minsterium für Landesentwicklung und Wohnen Baden-Württemberg) die Veröffentlichung des ARCH+ Sonderausgabe 248 »Stuttgart – die produktive StadtRegion und die Zukunft der Arbeit«, das sich exklusiv und in vielen aufschlussreichen Facetten mit der Region Stuttgart und dem für die IBA’27 zentralen Thema der produzierenden Stadt auseinandersetzt.

Den Abschluß des dreitägigen Veranstaltungsmarathons machte eine künstlerische Tanzperfomance durch die Weissenhofsiedlung, die mit einer spektakulären Fassadenprojektion und Livemusik am UNESCO-Weltkulturerbe »Haus Le Corbusier« den radikal mutigen, experimentierfreudigen und optimistischen Geist der Moderne für den Aufbruch ins morgen beschwor.

Die gesamten drei Tage sind auch im begleitenden Veranstaltungsblog dokumentiert.

Wir bedanken uns bei allen Mitwirkenden, Kolleginnen und Kollegen, bei unseren Gästen, sowie den Partnerinnen und Partnern der Veranstaltung sehr herzlich. Ohne ihren Beitrag wäre das Symposium in seiner Vielfalt und Relevanz nicht möglich gewesen!

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