10.03.21
Gastbeitrag

Flussregion werden – Zugang zum Neckar

Prof. Ute Meyer, Hochschule Biberach

An Zukunftsbildern für den Neckar mangelt es nicht. Stadt und Region haben die Potenziale einer Entwicklung mit dem Fluss erkannt und Planungskonzepte daran geknüpft. Doch wird der Neckar bislang nur in Teilbereichen als integrativer Landschaftsraum wirksam. Mit der IBAʼ27 als Impulsgeber können Initiativen vernetzt und die imagebildende Rolle des einmaligen Systems aus Gewässern, Topografie und Landschaftsräumen für die Region erschlossen werden: als grün-blaue Infrastruktur, die Städte und Gemeinden verbindet und unterschiedliche Aufgaben des Flusses in eine Balance setzt – ökologische, ökonomische und soziale. Und das Beste daran: Der Neckar ist nicht stuttgartzentrisch.

Neue Erfahrungen am Fluss

Mit dem Aufruf Der Fluss gehört allen wird der Blick darauf verschoben, wie so eine integrative Flusslandschaft Realität werden kann. Er ermöglicht und verlangt die aktive Beteiligung vieler an der Umdeutung des so zentral gelegenen Raums. Um einen anderen Zugang – im doppelten Wortsinn – zum Neckar zu bekommen, bedarf es eines absichtlich forcierten Prozesses, in dem Menschen unterschiedlichsten Interesses neue Erfahrungen im, am und mit dem Fluss machen. Wichtig dabei ist die sukzessive Verdichtung von Aktivitäten und Programmen. Mit der Zeit entsteht individuelle Teilhabe als Ergebnis der Aktivierung von Einzelorten oder experimentellen Entdeckungsreisen. Sie wird zum wichtigen Treiber für kommende Entwicklungen, denn: Die Zukunft eines Ortes wird selten einfach entworfen. Sie wächst Stück um Stück in den Köpfen der Menschen, durch Erlebnisse, Gespräche und eigenes Tun.

Freiräume erobern – temporäre Nutzungen ermöglichen

Der Zeitraum der IBAʼ27 muss als Aktivierungsphase genutzt werden. Die Idee vom Neckar und den Flusslandschaften der Region muss neu besetzt, und im kollektiven Bewusstsein wieder verankert werden: als öffentlicher, betretbarer und benutzbarer Raum, als Experimentierfeld für die Koexistenz von Produktion und Landschaft, von Arbeits- und Freizeitleben, von lokaler Begegnung und globalen Bezugspunkten.

Die Ausnahmesituation der IBAʼ27 ermöglicht es Anrainern und Kommunen in einem Schutzraum Gewagtes zu erproben oder zuzulassen. Mit wenigen (oder gar keinen) finanziellen Mitteln können sie kraftvolle Veränderungsimpulse setzen: Aktivitäten im Wasser, temporäre Bauten am Ufer, Rooftop Cinemas, urbane Gärten zwischen Werksgeländen oder Schulunterricht auf einem Feld. Das Öffnen eines Geländes, Zulassen einer Aktivität oder Ermöglichen eines Weges sind für sich genommen kleine (mutige) Einzelschritte – in Summe werden vorhandene Räume für neue Nutzungen entdeckt, öffentliche Orte geschaffen und Ideen für eine langfristige Entwicklung vor Ort durchgetestet. Es zeigt sich, welche Initiativen und Interessen sich verstetigen und was vor Ort funktioniert.

Neue Kultur der Kollaboration und Koproduktion

Mit diesen Ergebnissen angereichert können Leitbilder und Planungen fortgeschrieben werden. Dass mit diesem Prinzip einer dynamischen Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Wiederaneignung eines »blinden Flecks« in der Stadt Räume von starker, eigensinniger Identität geschaffen werden können, hat das Tempelhofer Feld in Berlin eindrücklich bewiesen. Rolle der IBAʼ27 kann es sein, den Öffnungs- und Aktivierungsprozess anzustiften und zu choreografieren, die neuen Bilder in den Köpfen zu bündeln und den Wandel sichtbar zu machen. Sie kann eine neue Kultur der Kollaboration und Koproduktion vorwegnehmen, in der klar ist, dass es in jeder Verhandlung mehr als einen halben Kuchen zu gewinnen gibt.

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