14.09.22
IBA'27-AG

Visionen zur Zukunft der Mobilität

Zu der Frage, wie wir in Zukunft wohnen und arbeiten werden, gehört ebenso zwingend die Überlegung, wie wir uns zukünftig in Stadt und Region fortbewegen. Die IBA’27-Arbeitsgruppe »Smart Mobility in a Smart City« widmet sich – als Teil des IBA’27-Forums – genau diesem Thema. Sie erörtert Mobilitätslösungen unter fachlich-technischen, gesellschaftlichen, rechtlichen und ökonomischen Aspekten. Die AG, die bereits seit vier Jahren erfolgreich zusammenarbeitet, versteht sich als Ideengeber sowie als Ansprech- und Diskussionspartner für die beteiligten Akteure. Ihre Arbeitsergebnisse sind Grundlage für den gegenseitigen Austausch zwischen den IBA’27-Projektträgern und der Arbeitsgruppe.

Betrachtet man die aktuellen Bedürfnisse und Anforderungen an Mobilität, ergibt sich ein hochkomplexes Bild: Der Straßenraum wird von Autos dominiert, Rad- und Fußgänger-Verkehr spielen meist eine untergeordnete Rolle. In die Arbeit der AG fließen daher Ergebnisse von Mobilitätsstudien und Untersuchungen ein, ebenso unternehmerische Konzepte und auch ortsspezifische Erkenntnisse über das Mobilitätsverhalten in Stuttgart und der Region. Eine Bewertungsmatrix, die die AG ebenfalls erarbeitet hat, ermöglicht bereits in einem frühen Projektstadium, Kriterien für die Verkehrsinfrastruktur in Quartieren mitzudenken.

Die Auswertung wissenschaftlicher und praktischer Erkenntnisse lässt die Dringlichkeit eines Wandels hinsichtlich der individuellen Fortbewegung eindeutig erkennen. Als Diskussionsgrundlage hat die AG eine Reihe von Mobilitäts-Visionen (»Ein Tag im Quartier 2037«) gestaltet und beschäftigt sich darin mit der Zukunft von Mobilität über den Zeitraum der IBA’27 hinaus.

Anhand der drei Szenarien »Die Stadt des Radverkehrs«, »Die Stadt des Öffentlichen und Fußgängerverkehrs« sowie »Die autogebremste Stadt« wird am Beispiel des Karl-Benz-Platzes in Untertürkheim plakativ dargestellt, wie wir uns im jeweiligen Szenario zukünftig im Stadtraum bewegen könnten.

Ziele der Visionen

  • Individuelle Mobilität erhalten
  • Lebensqualität in Stuttgart und in der Region verbessern
  • Luftqualität verbessern, Lärm reduzieren, Energieeinsatz verringern, Mobilitätsemissionen reduzieren
  • Zeitaufwand zum Erreichen der alltäglichen Ziele verringern
  • Nutzerkosten reduzieren
  • Einsatz von Steuermitteln für Mobilitätsangebote verringern

Smarte Mobilität in einer Smarten Stadt

Im Mittelpunkt der AG-Arbeit steht nicht nur die Aufteilung der Verkehrsnachfrage auf verschiedene Verkehrsmittel, es geht vielmehr auch um die Vernetzung von Informationen, etwa die großflächige wie lokale Erfassung von Mobilitätsdaten und die Verknüpfung mit Fahrplänen, Sharing-Angeboten etc.. Die Smart City bietet viele zusätzliche Informationen, Buchungs- und Gestaltungsmöglichkeiten für eine individuelle Mobilität.

Persönliche Einschätzung der Projektverantwortlichen

Wir haben die jeweiligen »Paten« der Mobilitätsvisionen gefragt, welche persönlichen Erwartungen sie an die Umsetzung haben – Jörg Schönharting (Stadt des gebremsten Autoverkehrs), Dr. Andreas Helferich (Stadt des Radfahrens) sowie Prof. Kerstin Gothe und David Schmid (Stadt des Öffentlichen und Fußgängerverkehrs):

1. Was meinen Sie, können die erarbeiteten Visionen leisten? Was war das Ziel im Bearbeitungsprozess?

Kerstin Gothe / David Schmid: Die Vision soll in einer Art Wimmelbild veranschaulichen, wie Verkehrsteilnehmer sich in einer typischen Situation Stuttgarts fühlen, je nachdem welchen Schwerpunkt die Verkehrsentwicklung in den nächsten 15 Jahren nimmt – ob eher der Autoverkehr oder der öffentliche und Fußverkehr oder der Radverkehr im Focus der Verkehrsplanung stand. Das Ziel war, diese unterschiedlichen Schwerpunkte in ihren Konsequenzen auch für die jeweils anderen Verkehrsarten zu verdeutlichen.

Jörg Schönharting: Anlass für die Entwicklung der Mobilitätsvisionen war die Auseinandersetzung mit einer zukünftig nachhaltigen Mobilität – ausgehend von einer aktuell großen Unzufriedenheit im politischen Raum. In der Auseinandersetzung gab es sehr gegensätzliche Vorschläge, die leidenschaftlich verfochten wurden. Um die Diskussion zu versachlichen, haben wir Eckpunkte definiert, die jede Lösung beinhalten sollte. So entstand auch die »Vision für die gebremste Autostadt«.

Andreas Helferich: Die Visionen sollen jeweils beschreiben, wie die Mobilität in Stuttgart und der Region ca. 2037 aussehen könnte. Ziel war es, realistische Szenarien zu entwerfen und gleichzeitig drei unterschiedliche, jeweils in sich konsistente Zielzustände zu beschreiben. Unsere zentrale Annahme hinter allen Visionen war, dass der Anteil des motorisierten Individualverkehrs (MIV) in Zukunft deutlich sinken muss und dies auch tut. Dieser Anteil von PKW etc. im sogenannten Modal Split (= Aufteilung des Gesamtverkehrsaufkommens, verteilt auf die jeweiligen Verkehrsmittel) geht vor allem aufgrund der Nachteile wie Platzbedarf, Ressourcenverbrauch, Emissionen zurück.

2. Wo liegen, Ihrer Meinung nach, die größten Hürden auf dem Weg zur Umsetzung?

A. H.: Die größten Hürden liegen zum Einen in der jeweils individuell notwendigen Offenheit, die eigene Mobilität in den jeweils passenden Situationen umzustellen – auch die Fahrradstadt sieht nicht vor, dass alle immer das Fahrrad nutzen, aber eben, dass ein signifikanter Anteil der Wegstrecken unter 5 km mit dem Rad (oder Pedelec/E-Bike/Lastenrad) zurückgelegt werden. Zum Anderen benötigen die jeweils stärker genutzten Verkehrsmittel mehr Platz als sie bislang bekommen, was in einer dicht besiedelten Region wie der Region Stuttgart automatisch dazu führt, dass dieser Platz für seine bisherige Nutzung nicht mehr zur Verfügung steht. Im Falle der Fahrradstadt heißt das ganz konkret, dass Straßen verschmälert bzw. Fahrbahnen umgewidmet, Kreuzungen umgestaltet und Parkplätze am Straßenrand umgewidmet werden.

J.S.: Die Vorstellung, dass die Autos aus dem Straßenraum in eine andere Ebene verlagert werden, findet in der Bevölkerung nach meiner Einschätzung mehr Anhänger als Gegner. Die größte Hürde für eine Umsetzung werden die enormen Kosten für Investitionen und Betrieb sein. In der Vision werden die Kosten auf den KfZ-Nutzer umgelegt. Die Furcht vor einer jahrelangen Baustellentätigkeit wird ebenfalls Gegenwind erzeugen.

K. G./D. S.: Die Hürden sind neben den hohen Kosten für die Vision des öffentlichen und Autoverkehrs vor allem Akzeptanzprobleme, gerade wenn das Auto restriktiv behandelt wird. Hier ist eine deutliche politische Unterstützung erforderlich. Auch müssen die Mobilitätsanbieter besser zusammenarbeiten.

Welches Learning konnten Sie persönlich aus der Aufgabe mitnehmen?

A. H.: Zum Einen konnte ich mein Wissen zu bestehenden Lösungen im Bereich Infrastruktur für Fahrräder erweitern und aktualisieren, indem ich nach Erfahrungen und Best Practices im In- und Ausland gesucht habe. Zum Anderen war es sehr spannend zu sehen, wie Cristina Estanislao auf Basis unserer schriftlichen Visionen und mündlichen Erläuterungen die drei tollen Poster gestaltet hat.

J. S.: Insbesondere die städtebauliche Einbindung der unterirdischen Ebene mit der Oberfläche sorgte für lebhafte Diskussionen in der Gruppe. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage war sehr bereichernd, ebenso, wie eine solche Vision ins Bild gebracht werden kann. Hier hat die Künstlerin Cristina Estanislao eine begeisternde Arbeit abgeliefert.

K. G./D. S.: Die Realisierung durch eine Künstlerin hat uns technisch geprägten Ingenieuren die Augen geöffnet, wie man technische Visionen visuell erfahrbar machen kann – ohne dass ein konkreter Entwurf dahintersteht. Wir waren mit der Zusammenarbeit nach in einem konstruktiven Dialog sehr zufrieden.  

Gibt es Aspekte der Visionen, die eine Utopie bleiben werden? Und welche dargestellten Szenarien gelten bereits heute als »State oft the art« – nur noch nicht in Stuttgart…?

A. H.: Hier muss man die drei Szenarien differenziert betrachten: Die »Fahrradstadt« ist nicht weit entfernt von dem, was führende Städte wie Kopenhagen, Amsterdam oder Utrecht heute schon als Status Quo aufweisen. In Deutschland werden Bremen und Münster gerne genannt, während Paris sehr ambitionierte Ziele hat und in den letzten Jahren auch beeindruckende Fortschritte erzielt hat, die Stuttgart durchaus als Vorbild dienen dürfen. In der Förderung des ÖPNV wären beispielsweise Tokio und Wien zu nennen, in denen die abgebildeten Komponenten ebenfalls größtenteils schon umgesetzt sind. Die weitgehende Untertunnelung einer Stadt durch Straßentunnel wird voraussichtlich Utopie bleiben, auch wenn etwa Elon Musk mit seiner Boring Company anderes verspricht.

J. S.: Die Vision der autogebremsten Stadt ist in keiner seiner Komponenten »state of the art«. Sie knüpft aber an die vielen Straßentunnel und Tiefgaragen an, die es in Großstädten wie Stuttgart bereits gibt. Die Vorstellung, dass die Vision eine flächige Lösung für die gesamte Stadt sein kann, ist Utopie. Eine Realisierung wird sich auf dicht bebaute Stadtbereiche mit engen Straßenzügen beschränken, in denen dann Öffentlicher Verkehr, Rad- und Fußverkehr viel Gestaltungsspielraum erhalten.

K. G./D. S.: Seilbahnen als Teil des öffentlichen Nahverkehrs gibt es bereits in Südamerika. Utopie sind noch Volokopter.
Große Chancen sehen wir in den neuen Technologien einer smart mobility, insbesondere wenn autonom fahrende Autos in starkem Umfang geteilt werden – indem sie nacheinander individuell oder indem sie gemeinsam wie ein Sammeltaxi genutzt werden.

Mehr Informationen zu den Mobilitätsvisionen finden Sie in folgenden Flyern (PDF).

Vom 16.09. bis 22.09.22 findet die zweite Stuttgarter Mobilitätswoche statt. Im Stuttgarter Rathaus werden u. a. die Visionen der AG präsentiert.

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