14.04.23
Kommentar Markus Schaefer

Inside out: Zum Produktiven Stadtquartier Winnenden

Der Beitrag erschien erstmalig in der ARCH+ Ausgabe 248 zur IBA’27.

Ein »Glücksfall für Winnenden«, ein »Meilenstein für die IBA« – das Siegerprojekt von JOTT Architekten aus Frankfurt am Main im offenen Städtebauwettbewerb für das »Produktive Stadtquartier Winnenden« begeisterte die Wettbewerbsjury ebenso wie die Politik. Wie in einem bunten, aber klar strukturierten Flickenteppich montieren die Architekt:innen Landwirtschaft, Wohnen und Gewerbe, diese in der Raum- und Stadtplanung sonst säuberlich nach Funktionen getrennten Zonen, wieder eng nebeneinander. Unerwartete Nachbarschaften, wie sie in der urbanen Peripherie oft vorkommen, werden hier zum Leitmotiv und zu einem neuen Typ präzise gestalteter Stadtlandschaft. Urbane Blöcke wechseln sich ab mit Feldern und Gärten, locker aufgereiht an einer Promenade, die vom Bahnhof Winnenden in die Landschaft führt. In den Höfen der Blöcke wird produziert, während nach außen, zu den Feldern hin, gewohnt wird. Damit verbindet das Projekt geschickt und exemplarisch aktuelle Themen der planerischen Debatte – ein guter Grund es auch über seine spezifische Antwort auf das Wettbewerbsprogramm hinaus genauer anzuschauen.

Lageplan des städtebaulichen Entwurfs von JOTT architecture & urbanism für das IBA’27-Projekt »Produktives Stadtquartier Winnenden« (Bild: JOTT architecture & urbanism GbR)
Lageplan des städtebaulichen Entwurfs von JOTT architecture & urbanism für das IBA’27-Projekt »Produktives Stadtquartier Winnenden« (Bild: JOTT architecture & urbanism GbR)

Das Areal ist über den Bahnhof, der westlich des Stadtzentrums von Winnenden liegt, gut erschlossen. Wiederum westlich davon umfährt die Bundesstraße 14 die Stadt in großem Bogen. Zwischen Gleisen und Umfahrung hat sich eine vielfältige Mischung von Funktionen entwickelt: Im Norden wurde eine ehemalige Ziegelei vom Reinigungsgerätehersteller Kärcher zu einem preisgekrönten Campus umgebaut. Ein Fruchtsaftproduzent, Großhandel und Gewächshäuser werden durch Straßenzüge ergänzt, die noch sparsam mit Wohnhäusern besetzt sind. Und unter der Zipfelbachtalbrücke der B14 hindurch schiebt sich die Landwirtschaft eng an das Stadtgebiet heran. Eine typische städtische Randlage also, wie sie Stadtplaner:innen und Architekt:innen fasziniert, seit Thomas Sieverts den Begriff der »Zwischenstadt«[1] geprägt hat. Janna Hohn, Partnerin im Büro JOTT, hat solche Situationen bereits in ihrer Doktorarbeit studiert. Regelmässig macht sie mit ihrem Büropartner Josh Yates Randlagen zum Thema und zeigt deren Chancen und Notwendigkeit auf, einerseits in Texten wie »Das Verschwinden der Städtischen Rückseiten«[2], andererseits in Projekten, wie im städtebaulichen Wettbewerb Europan 14 zur produktiven Stadt[3]. Zwischenstadt, Stadtlandschaft, Randlagen – stets geht es um eine gute Mischung, die an solchen Orten noch nicht verdrängt oder überformt wurde oder die durch eine sorgfältige Planung gestärkt beziehungsweise erst ermöglicht werden kann.

Ausschnitt des städtebaulichen Entwurfs von JOTT architecture & urbanism für das IBA’27-Projekt »Produktives Stadtquartier Winnenden«: Gemischte, dichte und urbane Baublöcke (»Produktive Cluster«) in großzügigen Freiräumen (Bild: JOTT architecture & urbanism GbR)
Ausschnitt des städtebaulichen Entwurfs von JOTT architecture & urbanism für das IBA’27-Projekt »Produktives Stadtquartier Winnenden«: Gemischte, dichte und urbane Baublöcke (»Produktive Cluster«) in großzügigen Freiräumen (Bild: JOTT architecture & urbanism GbR)

Eine solche Mischung wird im Entwurf mittels einer so einfachen wie zielführenden städtebaulichen Disposition erreicht. Auf dem landwirtschaftlichen Raster werden je alternierend Blockrandbebauungen und dazwischenliegende Felder und Gärten vorgeschlagen. Während aber in einer regulären Blockrandbebauung Straßen, Lärm und Adressen außen liegen und sich im Inneren der Blöcke ruhige Höfe befinden, sind die Blöcke hier umgestülpt. Produktion, Anlieferung, Lärm und Adressen sind im Blockinneren situiert, während nach außen zur Landschaft ruhig gewohnt werden kann.

Das Quartier besteht aus mehreren um Gewerbehöfe angeordneten Gebäudeclustern. Die Adressbildung der Wohnungen soll über die grünen Zwischenräume entstehen.

Anstatt einer städtischen Überbauung mit beidseitig von Blockrändern gesäumten Straßenzügen ergibt sich damit ein stadtlandschaftliches Schachbrettmuster mit introvertierter Siedlung und landwirtschaftlichen Freiflächen, die jenseits der B14 in die offene Landschaft übergehen. Was die Planung der Moderne räumlich getrennt hatte, kann nun wieder neu zusammengebracht werden. Kurze Wege, überraschende Nachbarschaften, neue Synergien, Austausch und Vielfalt, ja vielleicht auch Resilienz werden möglich, wenn Funktionen wieder eng nebeneinanderliegen und voneinander profitieren können.

Bautyp Wohnen und Arbeiten
Bautyp Wohnen und Werkstätten
Bautyp Atelierhaus

Ergänzt wird diese Grunddisposition durch eine Promenade, an die sich eine Reihe von Plätzen mit Attraktoren und gemeinschaftlichen Funktionen angliedern: ein Bürgerhaus, ein FabLab, ein Atelierhaus oder Co-Working-Spaces. In Richtung Stadt und Bahnhof öffnet sich das Quartier mit dem Marktplatz als Eingangsbereich. Der Agro-Hub ganz im Westen leitet über zur landwirtschaftlichen Nutzung. Die Blöcke sind als Baukasten für hybride Typologien konzipiert und versprechen ein Nebeneinander von Werkstätten, Industriehallen, Ateliers, Studios und innovativen Wohnformen. Darüber liegen Dachflächen mit Terrassen, Urban Gardening und Photovoltaikanlagen.

In allen Blöcken ist Wohnen möglich, vom Autobahnknoten im Nord-Westen nimmt der Anteil an Wohnen nach Süd-Osten jedoch zu. Spielräume in der Entwicklung bleiben offen. Die Blöcke werden in verschiedenen Bauphasen erstellt, immer dem Kontext und den Nutzungen angepasst. Das Areal bleibt autofrei und ist geprägt von Fuß- und Radverkehr. Private Fahrzeuge werden in den zwei Quartiersgaragen im Norden abgestellt. Entlang der Quartiersroute finden sich Fahrradstellplätze. Neben der Anbindung an den Bahnhof ist das Quartier bereits heute durch Buslinien erschlossen.

Nutzungsmischung
Innovative Gebäudetypologien werden zu einem Cluster vereint und bieten vielfältige Flächen im Freien: Private Außenräume (1), Werkhöfe (2) und gemeinschaftliche Dachterrassen (3).

Ziel der Wettbewerbsaufgabe war es, ein produktives Stadtquartier zu gestalten – ein Thema, das an vielen Orten, auch bei der IBA’27, auf der Agenda steht. Schon mit dem Symposium Die Produktive Stadt 2014 war die Stadt Stuttgart hier Vorreiterin. Aber auch in anderen Städten und Regionen weltweit findet ein Umdenken statt. »A Good City Has Industry« proklamierte Brüssel im Rahmen der Internationalen Architekturbiennale Rotterdam. Einer der Autoren, Mark Brearley, Städtebauprofessor und Unternehmer in London, plädiert schon seit langem für den Erhalt von Produktion in Städten. Nina Rappaport untersuchte neue Typologien bereits in ihrem Buch Vertical Urban Factory[4] und zeigt in ihrem neusten Buch Hybrid Factory, Hybrid City[5] Chancen der urbanen Produktion. Auch Industrie.Stadt[6] gehört in diese Reihe von Publikationen. Neben etablierten Architekten wie Barkow Leibinger oder Sauerbruch Hutton arbeiten verschiedenste jüngere Architekturbüros, wie Plusoffice Architects, Tolila + Gilliland Atelier, Office Oblique, EM2N, 51N4E, l’AUC und viele mehr an Projekten und Themen zur produktiven Stadt.

Städte wie New York, Paris, München oder Zürich fördern die urbane Produktion aktiv, erhalten und schaffen Arbeitszonen. Die Folgen der Globalisierung und die damit einhergehende Gentrifizierung globaler Städte und ihrer Industriebrachen waren politisch nicht mehr tragbar. Zudem nahm die Nachfrage nach Raum für die urbane Produktion aus unterschiedlichen Gründen wieder zu, zumindest in den wachsenden städtischen Regionen der Globalisierungsgewinner: Die erstarkende Kreativwirtschaft suchte sowohl nach lokalen Produkten wie nach produzierenden Tätigkeiten. Die Wissensarbeiter einer innovativen und hoch automatisierten Industrie schätzen eine städtische Umgebung und die Nähe zur akademischen Forschung. Arbeitsplätze in der urbanen Produktion sind inklusiv und diversifizieren den Arbeitsmarkt, während Industrie- und Gewerbezonen einer allzu zügellosen Aufwertung der Landpreise entgegenwirken und daher von Städten erhalten werden. Es bildet sich eine neue urbane Industrie, die nicht mehr wie früher laut und schmutzig auf großen Flächen in großen Firmen produziert, sondern die in kleinen Unternehmen, dezentralisiert, digital und vernetzt in unterschiedlichen produktiven Konstellationen zusammenarbeitet und oft auch für einen urbanen Markt produziert – zum Teil mit hoher Wertschöpfung und viel Sinn für Design. Die neue urbane Industrie ist der vielfältigen städtischen Wirtschaft und dem kleinteiligen Maßstab der Städte angepasst.

Nachfrage ist also vorhanden, auch in Winnenden, das sich in einer zunehmend vernetzten Region weiter entwickeln wird. Wie steht es aber mit dem Angebot? Sind die gemeinschaftlichen Funktionen lebendig und attraktiv, die Produktion wertschöpfend und die Landwirtschaft effizient genug? Wenn Funktionen wieder neu zusammengefügt werden, kann dann jede noch gemäß ihrer Eigenlogik funktionieren? Die Umkehrung der Blockstruktur beschränkt den Verkehrsraum auf die Höfe und verhindert gleichzeitig die traditionelle Flexibilität von Blockrandbebauungen an dieser Stelle, die ja auch eine Art internalisierte Randlage darstellt. Wenderadien und Schleppkurven werden zum Flaschenhals. Mehrere Durchfahrtsstraßen führen über die Ortsmitte. Die Anlieferung muss auch in einer Entwicklung funktionieren, die in Phasen über mehrere Jahre erfolgt. Was geschieht, wenn Nutzer:innen neue Anforderungen stellen? Die Grünflächen werden durch die mittlere urbane Achse getrennt, wodurch keine zusammenhängende landwirtschaftliche Nutzung entstehen kann. Die Gebäude wiederum sind zwar flexibel gedacht, können aber mit großen, allseitig belieferbaren Gewerbehallen bezüglich Flexibilität und Kosten nicht konkurrieren. Zwangsläufig beschränken sich die Nutzungen gegenseitig. Die Skaleneffekte und Effizienzen von getrennt optimierten Nutzungen entfallen. Es entsteht Manufaktur statt Industrie, Gartenbau statt Landwirtschaft, heterogene Stadtlandschaft statt Wohnquartier. Je integrativer und hybrider Architekt:innen und Stadtplaner:innen arbeiten, desto stärker definieren sie neue, noch unerprobte Typologien und geben so Nutzungszusammenhänge vor. Genauso wichtig wie der Entwurf sind daher nun integrierte Entwicklungsprozesse, innovative Nutzungskonzepte und neue Geschäftsmodelle für Investor:innen, Betreiber:innen und Nutzer:innen solcher Liegenschaften.

Entsprechend versteht sich das Projekt als städtebaulicher Entwurf, nicht als fertig geplante Architektur. Es geht um Spielregeln, die es erlauben, das Projekt gemeinsam weiterzuentwickeln. Diese werden zuerst zu einem Rahmen- und anschließend zu einem Bebauungsplan weiterentwickelt. Beruhend auf dieser rechtlichen Sicherung werden Konzeptvergaben für die einzelnen Blöcke organisiert.

So stellen sich auch übergeordnete Fragen, die im Rahmen der IBA’27 ideal verhandelt werden können und müssen. Wie funktioniert eine produktive Stadtregion? Was sind ihre Wertschöpfungsketten, ihre Wirtschaftlichkeit und ihre räumlichen und strukturellen Maßstäbe, ihre Vernetzung und ihre Abhängigkeiten? Um die vielbeschworene Resilienz zu erreichen, werden wir auf Effizienz verzichten müssen. Aber können wir dies bereits ökonomisch abbilden? Wie kapitalisieren wir eine kleinteiligere, regionalere, weniger optimierte, dafür nachhaltigere Zukunft im unerbittlichen globalen Wettbewerb der Gegenwart? So stellen sich 100 Jahre nach der Weißenhofsiedlung wieder Fragen nicht nur zum Bauen, sondern auch zu Gesellschaft und zur Wirtschaft sowie zu den Werten, die sie begleiten.

Der »Design District« ist Teil eines der größten privaten Immobilienprojekte Europas, der Greenwich Peninsula, auf der rund 17.000 neue Wohnungen entstehen. Acht Architekturbüros haben jeweils ein Gebäudepaar entworfen, das für Londoner Verhältnisse erschwinglichen Arbeitsraum für rund 1.800 in der Kreativindustrie tätige Menschen schafft. Im Rahmen des Aufwertungsprozesses wurde allerdings auch ansässiges Gewerbe verdrängt.

Ort: Greenwich Peninsula, London
Fertigstellung: 2022
Auftraggeber: Knight Dragon
Größe (m2): 80.940 m2
Architektur: 6a Architects, Architecture 00, Barozzi Veiga, HNNA, Adam Khan Architects, David Kohn Architects, SelgasCano
Masterplan: HNNA

Die von 6a architects entworfenen Projekte A2_B2 sind als ungleiche Zwillingsgebäude konzipiert, die an der Hauptachse des Viertels liegen, eines an jedem Ende des zentralen Platzes. Hier sollen Start-Ups, Künstler:innen und Unternehmen aus unterschiedlichen Kreativbranchen zusammengebracht werden, um ein gemischt genutztes Umfeld entstehen zu lassen.

Ort: Greenwich, London
Fertigstellung: 2022
Auftraggeber: Knight Dragon
Architektur: 6a architects


[1] Thomas Sieverts: Zwischenstadt – Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land, Wiesbaden 1997

[2] Janna Hohn: Städtische Rückseiten – Das Bindegewebe der Stadt, Karlsruhe 2019

[3] Janna Hohn, Joshua Yates: „In between the lines / Zwischen den Zeilen“, in: europan deutschland: Europan 14 – Productive Cities / Produktive Stadt, Berlin 2018, S. 36–39

[4] Nina Rappaport: Vertical Urban Factory, New York 2016

[5] Nina Rappaport: Hybrid Factory, Hybrid City, New York voraussichtlich 2022

[6] Hiromi Hosoya, Markus Schaefer (Hg): Industrie.Stadt – Urbane Industrie im Digitalen Zeitalter, Zürich 2021


Über den Autor

Markus Schaefer ist Gründungspartner bei Hosoya Schaefer Architects, Zürich. Das Büro arbeitet in den Bereichen Städtebau, Architektur und Stadtforschung an Projekten wie dem TechCluster Zug, verschiedenen Stadtquartieren und Campus-Planungen, aber auch am Flughafen Engadin sowie an Wohn, Schul- und Infrastrukturbauten. Er hat Mastertitel in Biologie der Universität Zürich und in Architektur der Harvard University, ist Autor und Mitherausgeber von The Industrious City und war Mitbegründer und Direktor von AMO, dem Think Tank von OMA / Rem Koolhaas sowie der Cividi GmbH, Zürich.

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