22.06.23
Gemeinsame Medieninformation

Wettbewerb Brenzkirche entschieden: Klare Haltung

Der nichtoffene internationale Realisierungswettbewerb mit Ideenteil für die geplante (städte-)bauliche Transformation der Brenzkirche im Stuttgarter Norden ist entschieden. Das Preisgericht legte unter Begleitung der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde Stuttgart und der Internationalen Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (IBA’27) am 21. Juni 2023 den Preisträger fest. Das Votum für die Kirche auf dem Weissenhof war einstimmig: Als erstplatzierter Beitrag geht aus dem Wettbewerb das Architekturbüro Wandel Lorch Götze Wach (WLGW) aus Frankfurt am Main hervor. Die Büros architekturstudio prinzmetal, Köln/Stuttgart und Klumpp + Klumpp Architekten BDA, Stuttgart belegen mit ihren Entwürfen den jeweils zweiten und dritten Platz, zudem wurden zwei Anerkennungen ausgesprochen (AAg LoebnerSchäferWeber, Heidelberg und Schleicher Ragaller Architekten BDA, Stuttgart).

Mit dem nun entschiedenen Wettbewerb für ein zukunftsweisendes Weiterbauen der Brenzkirche Stuttgart hat nun auch die Evangelische Gesamtkirchengemeinde Stuttgart ihr eigenes Vorhaben für die Internationale Bauausstellung 2027. Kirchenleitung und Gemeinde können mit dem Weiterbauen der Brenzkirche im Jahr der IBA’27 einer breiten Öffentlichkeit zeigen, wie Kirche als Zukunftsraum in der Stadt aussehen kann. Der Ort dafür könnte prominenter nicht sein: Die 1933 erbaute und seit 1939 immer wieder überformte Brenzkirche gehört zur »Kirchenfamilie« der Evangelischen Nordgemeinde Stuttgart und steht in unmittelbarer Nachbarschaft zum Europäischen Kulturerbe »Werkbundsiedlung am Weissenhof« und zur Akademie der bildenden Künste. Im Ausstellungsjahr der Internationalen Bauausstellung 2027 befindet sich die Brenzkirche damit sozusagen im Epizentrum der IBA’27-Ausstellung, die auf dem Weissenhof ihren Mittelpunkt hat. Bis zu diesem Datum soll die Kirche nun eine formal wie funktional auf die Bedarfe der Gemeinde und auf die Belange eines Kulturdenkmals abgestellte Neugestaltung und Sanierung erhalten.

Lesbare Spuren

Der Siegerentwurf von Wandel Lorch Götze Wach (WLGW) mit dem sprechenden Titel »Palimpsest« schreibt eine weitere Zeitschicht in das 90 Jahre alte Gebäude ein. Das Konzept sieht vor, zentrale Ideen des Ursprungsbauwerkes von 1933 mit Flachdach, ausgewogener Ponderation der Bauteile und liegenden Fensterformaten wieder sichtbar zu machen, ohne eine plumpe Rekonstruktion zu verfolgen. Der Entwurf zeigt ein Haus ohne Rückseite, differenzierte Ansichten treten in den Dialog mit der Umgebung.

Markantester und auch städtebaulich bedeutendster Eingriff in den Bestand ist beim Entwurf von WLGW der komplette Rückbau sämtlicher Satteldächer und eine kubische Aufstockung des Quertraktes im Süden, der auch weiterhin für Wohnzwecke zur Verfügung steht. Dieser Rückbau soll ablesbar sein, indem die neue Fassadengestaltung aus mineralisch-gewebeartiger Struktur die Dachsilhouetten mittels Prägungen und Materialwechseln nachzeichnet. Weitere lesbare »Spuren« (WLGW) finden sich in der Freilegung der charakteristischen Treppenhaus-Befensterung, der Freilegung der Glocken im neu erhöhten Turm, dem Beibehalten der Blindfenster an der Ostfassade.

Der Gemeindesaal im Erdgeschoss öffnet sich zum Straßenraum und zum Innenhof im Osten, eine Terrasse und ein kleiner Hain an der Landenbergerstraße vermitteln hier wirksam zwischen Innen und Außen.

Die den Eingang begleitende runde Ecke zur Straße Am Kochenhof soll als charakteristisches Element des Ursprungsbaus wiederhergestellt werden. Auch hier wird die Vorgänger-Überformung wieder lesbar gestaltet. Das flache Dach wird dem Bauwerk als nutzbare Fläche mit viel Entwicklungspotenzial zurückgegeben. Vom Dach aus lässt sich der Sichtbezug zur Werkbundsiedlung am Weissenhof und zu den umliegenden Quartieren neu erleben.

Im Inneren des Gottesdienstraumes will das Konzept zur bauzeitlich einseitigen Belichtung und Versachlichung des Raumes zurück und bietet einen flexiblen Mix aus noch original erhaltener Kirchenbank und loser Bestuhlung an.

Hochkomplexer Bestand

Welche Zeitschicht kann Referenz sein, was verweist auf die Zukunft? Das Preisgericht mit Vertreterinnen und Vertretern aus der Fachwelt, der Kirche, der Denkmalpflege und dem Verein der Freunde der Weissenhofsiedlung diskutierte anhand von 15 anonym eingesandten Entwürfen und hatte sich mit einer hochkomplexen Bestandsgeschichte auseinanderzusetzen.

Die Brenzkirche wurde 1933 nach einem Wettbewerb von Architekt Alfred Daiber im Stil der Neuen Sachlichkeit gebaut und sollte als Stadtteilkirche zwischen Weissenhof und Kochenhof eine wichtige städtebauliche wie sozialräumliche Funktion erfüllen. Die bauzeitliche Besonderheit der Brenzkirche liegt in der radikalen Sachlichkeit ihrer Architektur und in der Doppelfunktion als Gemeindezentrum zu ebener Erde und Kirchenbau mit Gottesdienstsaal im Obergeschoss. Mit aufgeständertem Glockenturm, Flachdach, abgerundeter Eckfront und multipler Nutzung als Kirche mit integriertem Gemeinde- und Pfarrhaus war die sachliche Architektur Ausdruck eines kompromisslosen Bekenntnisses zur Moderne.

Eine sich dem NS andienende Kirchenleitung und der von ihr beauftragte Architekt Rudolf Lempp kassierten das schlichte und doch so progressive Erscheinungsbild der Kirche anlässlich der Reichsgartenschau im Jahr 1939 mit einer sogenannten »Entschandelungsmaßnahme«, bei der das Bauwerk bis zur Unkenntlichkeit umgebaut wurde; die Pläne stammten vom Stuttgarter Architekten Rudolf Lempp. Die Befensterung wurde komplett verändert, die Kubatur des Baukörpers erhielt ein alles überformendes Satteldach, der Turm wurde verkleidet und mit einem goldenen Gockel gekrönt. Lempps Kriegsreparatur- und Sanierungsarbeiten nach 1945 schrieben diese Entwicklung weiter fort.

Gerade dieser Vorgang des Überformens der Neuen Sachlichkeit durch den Traditionalismus eines Vertreters der Stuttgarter Schule ist es, der nach Ansicht der Denkmalpflege heute den Kern des Kulturdenkmals Brenzkirche ausmacht.

Nach Einschätzung der Gesamtkirchengemeinde Stuttgart passt der Gesamtbau formal und funktional nicht mehr zu einer integrativen und zukunftsorientierten Gemeindearbeit. Aus Sicht der Gemeinde bietet sich der avantgardistische Ursprungsbau in Teilen als mögliches Identifikationsmodell an, auch wenn eine Rekonstruktion ausdrücklich nicht gewünscht war.

Neues Kapitel einschreiben

Nun macht der Entwurf »Palimpsest« von WLGW Architekten den Vorschlag, die Kirche unter Rekurs auf den Ursprungsbau von 1933 weiterzubauen. Das Konzept schafft aus Sicht des Preisgerichts eine angemessene Balance zwischen dem Bestand und den aktuellen Anforderungen eines zukunftsfähigen Kirchengebäudes. Gewürdigt wird dabei auch, dass das Konzept ein großes Potential für mögliche Anpassungen und Weiterentwicklungen aufweise.

Auch wenn die Arbeit den kompletten Rückbau des bisherigen Daches vorsieht, lobt das Preisgericht die differenzierende Entwurfshaltung. Der Vorsitzende Wolfgang Riehle begrüßte es ausdrücklich, dass sich die Stadtgemeinde Stuttgart für ein Wettbewerbsverfahren entschieden hat und zeigte sich zufrieden mit dem Ausgang des Wettbewerbs: »Dieser Planungswettbewerb war das passgenaue Verfahren für die komplexe Aufgabe: die Jury konnte unter den vielfältigen Vorschlägen zur Weiterentwicklung der Brenzkirche und der Sichtbarmachung ihrer Zeitschichten vergleichend abwägen. Der Siegerentwurf ist ein einfühlsamer, identitätsstiftender Glücksfall mit hohem Wiedererkennungswert und Entwicklungspotenzial zu einer einladend offenen Kirche mit variablen Nutzungen.«

Andreas Hofer, Intendant der IBA’27, betonte im Nachgang, dass der Beitrag des Frankfurter Büros das mit Abstand beste Projekt im Wettbewerb gewesen sei. Die heikle Aufgabe, die das Kulturdenkmal Brenzkirche den Entwerfer:innen gestellt habe, sei hier mit »großem Respekt und hoher Sensibilität« gelöst worden. Hier habe es »eine klare Haltung gebraucht und keinen lauen Kompromiss« und beides habe man mit dem Siegerentwurf bekommen.

Für die Kirche als Eigentümerin, Bauherrin und Ausloberin resümiert Christian Schwinge, Vorsitzender der Gesamtkirchengemeinde Stuttgart: »Dem 1. Preisträger ist eine architektonisch anspruchsvolle und harmonische Kombination aus Umgang mit dem Bestand und Weiterentwicklung der Brenzkirche gelungen, die gleichzeitig die Formensprache der ursprünglichen Kirche deutlich sichtbar macht und dies mit modernen Elementen ergänzt. Die Gemeinderäume im Erdgeschoss mit beidseitiger Terrasse öffnen die Kirche zum Stadtteil und bieten neben dem Dachgarten vielfältige Möglichkeiten der Begegnungen. Der Gottesdienstraum bleibt als solcher erkennbar und erfährt eine behutsame Auffrischung. Das waren unsere Wünsche, auf deren weitere Ausarbeitung und Umsetzung wir uns freuen.« Sören Schwesig, Stadtdekan der Gesamtkirchengemeinde Stuttgart nennt die Motivation: Man wolle eine Kirche, die in der Stadt, mit der Stadt und für die Stadt da sei. Deswegen sei er über den Entwurf, der sich so niederschwellig zum Quartier hin öffne, sehr glücklich.

Dem Wettbewerb vorausgegangen war eine gründliche Vorarbeit der Gesamtkirchengemeinde Stuttgart gemeinsam mit dem Förderkreis der Brenzkirche und deren Pfarrer, Karl-Eugen Fischer. Dieser hatte im Hinblick auf eine künftige Gemeindearbeit im Gebäude konkrete Wünsche formuliert: Die Brenzkirche solle einladend und offen sein und dürfe heute keine Hierarchien mehr abbilden. Ein erster Schritt in diese Richtung wurde nun mit dem Wettbewerbsergebnis unternommen. Konkret stehen nun die Abstimmungen mit den zuständigen Fachbehörden an.

Am Montag, 26.6.2023 lädt die Evangelische Akademie Bad Boll gemeinsam mit der IBA’27, dem Förderverein Brenzkirche und der Gesamtkirchengemeinde Stuttgart im Rahmen des IBA’27-Festivals zu einer offenen Informations- und Dialogveranstaltung in die Brenzkirche ein. Der Siegerentwurf wird an diesem Abend von den Verfahrensbeteiligten nochmals vorgestellt und mit den Besuchern der Veranstaltung diskutiert. Beginn: 18.30 Uhr, Brenzkirche, Am Kochenhof 7, 70192 Stuttgart, Haltestelle Killesberg, U 5 oder Bus 43 und 44

Die Gesamtschau der eingesandten Entwürfe ist ab dem 5.7. in der Brenzkirche zu sehen.

Interview mit Pfarrer Karl-Eugen Fischer zum Wettbewerbsentwurf

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