Beitrag aus dem IBA’27-Kuratorium
Planen im Krisenmodus: Demokratische Gestaltung in unruhigen Zeiten
von Johannes Novy
Wohin man blickt: Kriege, Krisen und Konflikte. Als die IBA’27 im Jahr 2017 antrat, der Region Stuttgart neue Impulse zu verleihen – ja, die Region ein Stück weit neu zu erfinden –, ahnte wohl kaum jemand, mit welch herausfordernden Umständen sie sich auf ihrer Reise konfrontiert sehen würde. Die Welt sei aus den Fugen geraten, heißt es heute allerorten – gefangen in einem stetig dichter werdenden Geflecht aus Krisen, die sich gegenseitig verstärken, bestehende Strukturen erschüttern und die Welt in eine Ära der Unsicherheit manövriert haben. Doch so überwältigend die gegenwärtigen Krisenkonstellationen erscheinen und so unvorbereitet uns ihre Wucht auch getroffen haben mag: Wahr ist natürlich auch, dass viele der Herausforderungen, die heute unter Begriffen wie Polykrise oder Stapelkrise – und einer Vielzahl weiterer neuer Zuschreibungen – gefasst werden, schon Gegenstand von Diskussionen waren, als die IBA’27 ihre Arbeit aufnahm, uns also bereits seit geraumer Zeit beschäftigen. Zu ihnen zählen der häufig diagnostizierte Anstieg von Polarisierung und Populismus, die Beobachtung einer wachsenden Entfremdung zwischen Bürgern und Politik und fortschreitenden Fragmentierung öffentlicher Diskurse sowie die aus diesen Dynamiken resultierende Sorge vor einer zunehmenden Unfähigkeit, gesellschaftliche Probleme gemeinschaftlich und konstruktiv zu bewältigen. Diese Entwicklungen, die aus Sicht von Experten, wenn nicht auf eine Demokratiekrise, dann doch auf ein zunehmend instabiles demokratisches Gefüge schließen lassen, werden seit langem intensiv diskutiert, und zwar auch – Stuttgart 21 lässt grüßen – im Kontext von stadtplanerischen Herausforderungen und Auseinandersetzungen über die Zukunft urbaner und regionaler Räume.
Planung als Aushandlungsraum: Warum Dissens dazu gehört
Wer beruflich mit ihr zu tun hat oder in politischen Gremien über sie entscheidet, der weiß, dass mit der Gestaltung unserer gebauten Umwelt Spannungen und Konflikte einhergehen können. Dies liegt in der Natur der Sache und der Umgang mit eben diesen Spannungen und Konflikten sowie ihren Ursachen gehört zum Arbeitsalltags jener, die in Architektur und Planung sowie Verwaltung und Politik Verantwortung für die Zukunft unserer gebauten Umwelt tragen. Mehr noch: sie sind nicht nur mitunter unvermeidlich, sondern wichtig – und das aus zwei Gründen. Zum einen, weil Fragen der gebauten Umwelt immer auch Fragen unterschiedlicher Interessen, Wertvorstellungen und Prioritäten sind und gesellschaftlich akzeptierte Lösungen nur dann entstehen können, wenn Differenzen nicht etwa unter den Teppich gekehrt, sondern ausgetragen werden. Und zum anderen, weil Spannungen und Konflikte oft als Katalysatoren für Fortschritt dienen, zum Beispiel dann, wenn durch sie bestehende Planungsparadigmen und -praktiken in Frage gestellt und Fehlentwicklungen sichtbar gemacht werden. Dass Konflikte mitnichten nicht nur blockieren, verzögern oder verschleppen, sondern auch Motor für Veränderungen und Innovation sein können, zeigt ein Blick in die jüngere Geschichte: Die teils erbittert geführten Debatten und Proteste der 1960er bis 1980er Jahre führten dazu, dass sich Stadtplanung und -politik von großflächigen Kahlschlagsanierungen ab- und einer sanfteren Erneuerung bestehender Quartiere zuwandten.
Konflikte und Spannungen sind für sich genommen nicht das Problem. Entscheidend ist ihre Natur und ihr Kontext: Welche Interessen stehen sich gegenüber? Welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen prägen die Auseinandersetzung? Und vor allem: Wie wird mit diesen Differenzen umgegangen und in welchem Zustand befindet sich die Gesellschaft, um sie zu bewältigen? Die Einschätzung vieler Expertinnen und Experten hierzu ist recht einhellig: Von einer Demokratiekrise zu sprechen, wäre im deutschen Kontext übertrieben. Doch die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse sind fragil, was die ohnehin herausfordernde Bewältigung der zahlreichen »externen« Probleme, vor denen Planer, Politik, und Verwaltung stehen, zusätzlich erschwert. Wirtschaftskrise, technologische Umbrüche, Klimawandel, Wohnungsknappheit, soziale Ungleichheiten, Migration und Integration, Energiewende, Sanierungsstau – all diese Herausforderungen treffen nicht nur die Spitzenpolitik, sondern belasten gerade auch die lokalen Ebenen. Dort angemessen zu reagieren ist bereits angesichts finanzieller Zwänge und anderer struktureller Defizite eine Mammutaufgabe. Doch sie wird noch herausfordernder, wenn das politische Gemeinwesen selbst ins Wanken gerät – wenn nicht mehr debattiert und gestritten, sondern gehetzt und geätzt wird; wenn demokratischen Entscheidungsprozessen sowie Politik, Medien und Wissenschaft das Vertrauen entzogen wird und Teile der Öffentlichkeit aktiv daran arbeiten, sie zu diskreditieren.
Planung zwischen Postpolitik und Populismus
Entscheidungen über die Gestaltung der gebauten Umwelt sind nie neutral, sondern stets politisch – und vielleicht liegt ein Grund, weshalb sie in der jüngeren Vergangenheit häufig in verhärteten Fronten, eskalierenden Kontroversen, oder aber auch in Apathie und Abwendung mündeten, in dem spezifischen gesellschaftspolitischen Klima der vergangenen Jahre. Einem Klima, das systematisch entpolitisierte und Kritik sowie Konflikt eher delegitimierte als ermöglichte. Beobachterinnen und Beobachter sprechen in diesem Zusammenhang von einer unheilvollen Verbindung neoliberaler Hegemonie mit einem technokratisch-elitären, »postpolitischen« Zeitgeist (Swyngedouw, 2007), der Politik durch Management ersetzte, Diskurs durch Moderation, und das Streiten über Alternativen durch ein Narrativ der Alternativlosigkeit – mit spürbaren Folgen für das Vertrauen in Politik, Planung und Demokratie. Denn wo echte Aushandlungsprozesse und Debatten ausbleiben, Beteiligung nur an den Rändern stattfindet, als Particitainment und nicht als ernst gemeinter Prozess, dort entsteht Frustration – und die richtet sich irgendwann auch gegen das »System« selbst.
Doch das ist nur die eine Seite. Auf der anderen wird die gebaute Umwelt zunehmend selbst zum Gegenstand gezielter politischer Aufladung und zum Vehikel populistischer Politik – mit dem Ziel, gesellschaftliche Spaltungen zu vertiefen, Misstrauen zu säen und politische Institutionen wie auch Gegenspieler gezielt zu delegitimieren. Fragen der Stadtentwicklung, Klimapolitik oder Mobilität werden dabei weniger aus inhaltlichem Interesse problematisiert – geschweige denn, weil man an Lösungen interessiert wäre. Vielmehr fungieren sie als symbolische Schlachtfelder und Bühnen politischer Mobilisierung, getragen von Emotionalisierung, Zuspitzung und gezielter Desinformation. Etwa wenn der Wegfall einiger Parkplätze oder einer Fahrspur zugunsten von Rad- und Fußverkehr zu einem Symbol staatlicher Bevormundung und Umerziehung aufgeblasen wird; wenn die Idee der »15-Minuten-Stadt«, ursprünglich als Konzept für lebenswerte und klimagerechte Städte gedacht, zu einer dystopischen Vision totalitärer Überwachung und Bewegungsbeschränkung verzerrt wird; oder wenn die »Green Transition« zur Chiffre für vermeintliche Machenschaften globaler Eliten avanciert, die eine neue Weltordnung durchsetzen wollen – wahlweise zur Einführung des Kommunismus, zur Bereicherung von Milliardären oder, je nach Erzählung, zu beidem zugleich.
Bizarre Verschwörungstheorien, die dringend notwendige gesellschaftliche Transformationsprozesse wie die Dekarbonisierung des Bau und Verkehrssektors als geheim orchestrierte Elitenprojekte darstellen, Planerinnen und Planer zu Handlangern dunkler Mächte erklären oder die UN-Nachhaltigkeitsziele als trojanisches Pferd globalistischer Kontrolle brandmarken, sind keine Randerscheinungen mehr. Sie werden nicht mehr nur von politischen Randgruppen und online in obskuren Telegram-Kanälen verbreitet, sondern sind in vielen Ländern im politischen und medialen Mainstream angekommen. Ein Beispiel liefert Großbritannien: Dort versuchte die konservative Partei im Wahlkampf, mit einer Breitseite gegen die »15-Minuten-Stadt«-Idee Stimmen zu gewinnen, indem sie diese als »sinistren« Plan darstellte, der angeblich darauf abziele, den Alltag der Menschen zu kontrollieren. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass Studien zufolge immer mehr Planerinnen und Lokalpolitiker Belästigungen und gezielten Online-Angriffen berichten. Die gute Nachricht: Der Versuch, mit solchen Attacken politisch zu punkten, blieb letztlich ohne Erfolg – die Konservativen verloren die Unterhaus-Wahl – und vielerorts zeigt sich: Wo Städte Maßnahmen im Sinne der »15-Minuten-Stadt« umsetzen, finden diese in der Regel Zustimmung ungeachtet anfänglicher Irritationen und nicht selten hitziger Kontroversen.
Die Krise der Imagination überwinden
Überhaupt lohnt es sich, gerade in Zeiten wie diesen, in denen Negativschlagzeilen unseren Alltag dominieren, auch das Positive im Blick zu behalten: Ja, die Liste der Herausforderungen ist lang und ernst, und ja, besorgniserregend ist auch der Zustand unseres gesellschaftlichen Klimas. Wahr ist aber auch: Die Situation in Deutschland ist nicht vergleichbar mit der vieler anderer Länder. Eine große Mehrheit steht weiterhin zu den Werten einer offenen, rechtsstaatlichen und pluralistischen Gesellschaft; unzählige Menschen setzen sich tagtäglich für sie und unser demokratisches Gemeinwesen ein. Und auch wenn Öffentlichkeit zunehmend fragmentiert, viele sich in scheinbar homogene »Bubbles« und Echokammern zurückgezogen haben und Diskurs wie Entscheidungsprozesse mehr und mehr unter die Räder von Polarisierung, Populismus und wachsender Feindseligkeit geraten: Nicht alle haben verlernt, über Weltanschauungen hinweg vernünftig miteinander zu reden, zu streiten, und gemeinsame Lösungen zu suchen.
Davon zeugen auch die vielen öffentlichen Formaten, die die IBA‘27 in den vergangenen Jahren auf die Beine gestellt hat und an denen sich tausende Menschen in der Regionen beteiligt haben. Zudem zeigt die IBA’27, dass auch in schwierigen Fragen gemeinsames Handeln möglich bleibt. Besonders deutlich wurde dies beim Thema Wohnungsbau: Die Stoßrichtung der IBA, dem Wohnraummangel in der Region durch gezielte Nachverdichtung zu begegnen – sprich, indem im Bestand kompakte, mehrgeschossige Wohnbauten entstehen, die Flächenpotenziale besser ausschöpfen und Gemeinschaft fördern –, führte nicht etwa zu den erwarteten Abwehrreflexen nach dem St.-Florian-Prinzip, geschweige denn – schließlich gelten die Schwaben als Volk der »Häuslebauer« – einem »Kulturkampf« ums Eigenheim. Stattdessen konnten viele Projekte – sei es die Hangweide im Kernen, die genossenschaftlichen Projekte »am Rotweg« und Zukunft Münster oder auch die Böckinger Straße in Stuttgart– erstaunlich unkompliziert, ja mitunter geradezu harmonisch auf den Weg gebracht werden.


Das macht Hoffnung, ändert aber natürlich nichts daran, dass die Zeiten sind, wie sie sind: schwierig. Oft ist vom Schutz unseres demokratischen Gemeinwesens die Rede — und von der Notwendigkeit, Vertrauen in seine Gestaltungsfähigkeit und Wehrhaftigkeit zurückzugewinnen. Doch Zuversicht entsteht nicht durch politische Appelle. Sie nährt sich aus dem konkreten Erleben, dass zentrale gesellschaftliche Herausforderungen, die den Alltag der Menschen prägen, tatsächlich angegangen und bewältigt werden. Die Wohnungsfrage ist dabei exemplarisch: Sie steht für die Fähigkeit (oder das Versagen) politischer Institutionen, konkrete, existenzielle Probleme zu lösen und so sehr Initiativen wie die IBA’27 zeigen, was möglich ist, so sehr wird zugleich deutlich, wie viel in Deutschland – und andernorts – strukturell im Argen liegt.
Vor diesem Hintergrund genügt es nicht, das politische Gemeinwesen bloß gegen Angriffe zu verteidigen. Die politische Philosophie macht seit langem deutlich, dass demokratische Institutionen nicht nur verteidigt, sondern aktiv neu erfunden werden müssen beziehungsweise Krisen nicht nur bewältigt, sondern zum Anlass genommen werden sollten, Bestehendes infrage zu stellen und sowohl die Formen als auch die Inhalte von Politik neu zu verhandeln (Gebh, 2025). Tatsächlich bleibt im »Dauerrauschen der Krise« (Kohlenberger, 2018) – das viele Beteiligte erschöpft und überfordert – oft unausgesprochen, dass die jüngere Vergangenheit auch von einer »Krise der Imagination« (Mulgan, 2022) gekennzeichnet war – einem Unvermögen, sich die Welt anders vorzustellen, als sie ist – oder als sie zu werden droht, sollten autoritäre Kräfte weiter an Einfluss gewinnen. Über das Gegebene hinauszudenken, Räume für neue Diskurse und Aushandlungsprozesse zu öffnen und zugleich konkrete, wirksame Antworten auf drängende gesellschaftliche Herausforderungen zu erproben, war und ist auch Anspruch der IBA’27. Diesen Anspruch in der ihr verbleibenden Zeit bis 2027 mit Nachdruck zu verfolgen, Mut zu machen und Lust auf Zukunft zu wecken, ist – auch wenn das allein die vielschichtigen Probleme unserer Zeit nicht lösen wird – ein Gebot der Stunde.

Johannes Novy ist Stadtplaner, Forscher und Senior Lecturer an der University of Westminster in London. Seine Arbeit fokussiert Stadt- und Planungstheorie, Stadtpolitik sowie Tourismus- und Freizeitforschung.
Er ist Mitglied des Berliner Urbanistenkollektivs u-Lab und arbeitet beratend sowie publizistisch zu Stadt-, Tourismus- und Planungsthemen. Zudem ist er Mitglied des Kuratoriums der IBA’27.
Gebh, Sarah (2025) . One Step Back, Two Steps Elsewhere: Exploring the Past to Envision Democratic Futures. APA Blog. 27 March 2025. Available Online. https://blog.apaonline.org/2025/03/27/one-step-back-two-steps-elsewhere-exploring-the-past-to-envision-democratic-futures/
Kohlenberger, J. (2018). Das Dauerrauschen der Krise. Der Standard, 27 August 2018. https://www.derstandard.at/story/2000085924012/das-dauerrauschen-der-krise
Mulgan, G. (2022). Another world is possible: How to reignite social and political imagination. Hurst Publishers
Swyngedouw, E. (2007). The Post-Political City. In Urban Politics Now: Re-Imagining Democracy in the Neo-Liberal City (pp. 58-76). NAI Publishers.

